Vorwahlen in Argentinien: Veränderung nach zwei Jahrzehnten
Die Vorwahlen am Sonntag in Argentinien sind mehr als nur ein Stimmungsbild für die Wahlen im Herbst. Ein Generationswechsel ist im Gange.
„Argentinien befindet sich in einer Übergangsphase“, sagt Artemio López, Direktor des Sozialforschungsinstituts Equis. Die Tatsache, dass erstmals weder die amtierende Vizepräsidentin und ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner (2007–2015) noch der ehemalige Präsident Mauricio Macri (2015–2019) kandidieren, zeige, dass sich ein zwei Jahrzehnte dauernder Zyklus dem Ende zuneige, so López. Zusammen mit dem verstorbenen Ex-Präsidenten Néstor Kirchner (2003–2007) beherrschten sie zwei Jahrzehnte lang die politische Szene des Landes.
Alle sind Söhne und Tochter der tiefen Krise von 2001, aus der ihre linksprogressiven und liberalkonservativen Allianzen hervorgegangen sind, so López. „2003 setzte Néstor Kirchner dem Neoliberalismus der Vorgängerregierungen ein Modell entgegen, das auf den sozialen Einschluss der Menschen gerichtet ist.“ Dies hat zu einer Polarisierung geführt, in der sich die politische Mitte nahezu aufgelöst hat.
Generationswechsel bei Kandidaten und Wählern
Da der amtierende Präsident Alberto Fernández (2019–2023) ebenfalls auf eine erneute Kandidatur verzichtet, ist der Kampf um die Führung in beiden Allianzen in vollem Gange. Doch nicht nur an den politischen Schaltstellen der Macht steht der Generations- und Führungswechsel bevor, auch wenn Kirchner und Macri weiterhin im Hintergrund die Fäden ziehen.
Unter den Wahlberechtigten ist der Generationswechsel ebenfalls im Gange. 30 Prozent der Wahlberechtigten kennen die Regierungszeit von Néstor Kirchner nur aus den Geschichtsbüchern, und die, die heute zum ersten Mal wählen dürfen, sind um das Jahr 2007 geboren – als Cristina Präsidentin war, waren sie noch Säuglinge oder kleine Kinder.
Die aussichtsreichsten Anwärter*innen für eine Präsidentschaftskandidatur sind auf Regierungsseite Wirtschaftsminister Sergio Massa und bei der Opposition Horacio Rodríguez Larreta, Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, sowie die Vorsitzende der Macri-Partei PRO, Patricia Bullrich.
Für eine Überraschung könnte der anarcho-neoliberale Ökonom Javier Milei sorgen, der mit seiner neuen Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) bei den letzten Wahlen 2021 einen Achtungserfolg eingefahren hat. „Noch hat keiner die politische Stärke von Cristina oder Macri“, sagt López. Sie seien „Führungspolitiker*innen des Übergangs“. Die möglichen politischen Allianzen seien komplett offen, so der Equis-Direktor. Die politische Polarisierung werde sich jedoch fortsetzen, zumal mit dem libertären Milei, rechts der rechtsliberalen Oppositionsallianz, ein ernstzunehmender Akteur aufgetaucht ist.
Umfragen sehen Opposition bei den Wahlen im Herbst vorne
Die Mehrzahl der Umfrageinstitute sagt einen Triumph der Opposition in den Wahlen im Herbst voraus. Keine Überraschung. Die soziale Bestandsaufnahme der Regierungspolitik fällt verheerend aus. Das alles beherrschende Thema ist die Inflation. Nach dem am Montag vorgestellten Verbraucherpreisindex der Stadt Buenos Aires stiegen die Preise im Juli abermals um 7,3 Prozent im Vergleich zum Vormonat Juni. Damit klettert der Preisanstieg in den ersten sieben Monaten des Jahres auf 63 Prozent. Private Wirtschaftsforschungsinstitute sagen inzwischen eine jährliche Inflation von über 120 Prozent voraus.
Dabei gehört die Inflation in Argentinien quasi zum Alltagsleben. Die im Jahr 2000 Geborenen wuchsen mit einer jährlichen Inflationsrate auf, die in ihren ersten 19 Lebensjahren zwischen 10 und 35 Prozent schwankte. Ab 2019 lag sie dann zum ersten Mal über 50 Prozent. Seit sich 2022 der Preisanstieg beschleunigt hat, wird selbst den inflationserfahrenen Argentinier*innen schwindelig.
„Der Schlüssel zum Wahlerfolg ist zu zeigen, wie die Einkommenskrise gelöst werden kann“, so López. Mit Wirtschaftsminister Massa hat die Regierungsallianz allerdings einen der Hauptverantwortlichen für die miserable Lage als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl vorgeschlagen. Das Marktforschungsinstitut Focus Market hat den Verlust des Preisgefühls kürzlich unterstrichen, indem es einen Supermarktverkaufsflyer aus dem Jahr 2007 mit einem aktuellen verglichen hat: ein Kilo Rindersteaks für 7,99 Pesos gegenüber den aktuellen 1.820 Pesos.
Der Kaufkraftverlust der Einkommen ist dramatisch. Nach Angaben des Produktionsministeriums liegt der Nettodurchschnittslohn im formalen öffentlichen und privaten Sektor bei 207.000 Pesos. Der Wert des Basiswarenkorbes für eine vierköpfige Familie, der die Armutsgrenze in Argentinien markiert, beträgt 215.000 Pesos. Noch prekärer ist die Lage im informellen Sektor, der nahezu die Hälfte der argentinischen Wirtschaft ausmacht. Gegenwärtig leben 40 Prozent der 46 Millionen Argentinier*innen in Armut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen