Vorstand über 100 Jahre Rote Hilfe: „Wir müssen jetzt zusammenhalten“
Seit 100 Jahren unterstützt die Rote Hilfe linke Gruppen. Ein Gespräch mit Vorstand Henning von Stoltzenberg zum Jubiläum in Zeiten des Rechtsrucks.
taz: Vor 100 Jahren wurde die Rote Hilfe gegründet, um staatlichen Repressionen gegen Linke etwas entgegenzusetzen. Ist das Jubiläum am 1. Oktober für Sie ein Grund zum Feiern?
Henning v. Stoltzenberg: Natürlich! Wir sind eine bundesweite, linke Solidaritäts- und Schutzorganisation. In über 50 Städten leisten unsere Ortsgruppen und unsere Unterstützer:innen großartige Arbeit. Wir werden von der Bewegung getragen und durch Spenden unterstützt und können so ein Gegengewicht zu sich rasant entwickelnden staatlichen Repressionen und dem Rechtsruck sein. Das ist ein Grund zu feiern. Obgleich das natürlich auch heißt, dass es uns weiter braucht, weil Gesetze verschärft werden, weil es massive Polizeigewalt gibt, weil Aktivist:innen aus politischen Gründen im Gefängnis sitzen. Dagegen kämpfen wir seit 100 Jahren an und werden es noch tun, solange es nötig ist.
ist 1977 geboren und seit vielen Jahren in verschiedenen linken Organisationen aktiv. Er sitzt im Bundesvorstand der Roten Hilfe.
taz: Wie steht es heute um den Stand der Repression gegen linke Gruppierungen?
Stoltzenberg: Die Repressionsentwicklung bezeichnen wir als rasant. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass die Letzte Generation, die sich friedlich auf Straßen setzt, zur kriminellen Vereinigung erklärt wird? Dass die Generalstaatsanwaltschaft München die Internetseite der Letzten Generation sperrt, dass bundesweit Wohnungen durchsucht werden? Oder die Auslieferung der Antifaschist:in Maja: Klar rechtswidrig! Das passiert einfach, obwohl es einen anderslautenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gibt. Es ist die normative Kraft des Faktischen, die sich die Behörden immer öfter leisten, sie tun Dinge einfach. Damit wird die Polizei aus unserer Sicht immer öfter zum politischen Akteur.
taz: Sie sagen, die Polizei als Institution verfolgt eigenständige politische Ziele?
Stoltzenberg: Wir beobachten in Antifa-Prozessen, dass Beamt:innen teilweise Verbindungen nach rechts haben und ein klares Eigeninteresse zeigen, gegen Linke und Antifaschist:innen vorzugehen. Da werden Neonazis Sachen zugespielt. Da verschwindet eine große Anzahl an Patronen, die dann später mutmaßlich in den Händen von Rechten wieder auftauchen. Da ist sehr viel im Argen. Man spürt das auch auf Demonstrationen, wo manchmal einfach Sachen verboten werden, ohne dass es dafür eine Rechtsgrundlage gibt. Wenn man sich nach dieser erkundigt, werden Beamt:innen auch frech und sagen, „ich brauch keine“. Was natürlich falsch ist, aber sie sagen, „im Zweifelsfall haben wir unsere Knüppel und hinterher werden wir sowieso nicht belangt“. Das ist ein Problem!
taz: Welche Rolle spielt in dieser Entwicklung die zunehmende gesellschaftliche Isolation der Linken? In den letzten Jahren sind bürgerliche Parteien und die Bevölkerung spürbar nach rechts gerückt.
Stoltzenberg: Natürlich gibt es eine starke gesellschaftliche Polarisierung. Aber auf der anderen Seite ist es auch so, dass viele Leute sich zu uns hin bewegen, weil sie verstehen, dass in Zeiten des Rechtsrucks die Solidarität stärker werden muss. Das führt dazu, dass wir mehr Spenden bekommen, dass sich immer mehr Menschen entscheiden, der Roten Hilfe beizutreten. Das ist wichtig, denn wir müssen jetzt zusammenhalten, damit es uns gelingt, die Verhältnisse perspektivisch wieder zu drehen und wieder einen größeren Spielraum, mehr progressive Inhalte und Freiheitsrechte zu erkämpfen.
taz: Wächst die Unterstützung und Akzeptanz der Roten Hilfe auch im linksliberalen Spektrum?
Stoltzenberg: Den Eindruck habe ich ganz stark. Klar, nicht immer gefällt allen alles, was in unseren Broschüren steht. Aber es gibt eben viele Bereiche – der Kampf gegen rechts, der Klimabereich –, wo ein Verständnis dafür wächst, dass wir nützliche Tipps anzubieten haben: Geht nicht zu Vorladungen, es sei denn, sie kommen von der Staatsanwaltschaft. Verweigert die Aussage. Lasst euch solidarische Anwält:innen vermitteln. Das nützt ja allen Bewegungen – und deshalb halten wir Vorträge sowohl bei Antifastrukturen als auch bei der Grünen Jugend. Und das finden wir super so!
taz: Weil es – Sie haben schon die Letzte Generation angesprochen – heute schneller geht, mit dem eigenen Aktivismus ins Visier der Behörden zu geraten?
Stoltzenberg: Ja. Heute kann es alle treffen. Du musst nicht mehr klassisch militante Aktionsformen wählen. Es kann dich treffen, einfach weil du dich mit einem Schild auf die Straße setzt und protestierst. Dann kann gegen dich – wie bei der Letzten Generation – eine bundesweite Hetzkampagne gestartet werden, die dir vorwirft, du würdest Rettungskräfte behindern. All das stimmt wahrscheinlich gar nicht, aber das kann über dich hereinbrechen – und da braucht es dann eine kollektive Verteidigung und Zusammenhalt. Das verstehen immer mehr Menschen.
taz: Der Leitspruch der Roten Hilfe ist: Gegen staatliche Repression müssen alle zusammenstehen, unabhängig, zu welcher Gruppe man gehört oder welche Analyse man hat. Linke sind ja aber sehr gut darin, sich gegenseitig das Linkssein abzusprechen. Wie definiert denn die Rote Hilfe, wer zur Linken dazugehört?
Stoltzenberg: Es ist mir nicht möglich, allumfänglich zu definieren, was links ist. Entscheidend ist für uns zunächst einmal ein linkes Selbstverständnis. Und dann haben wir unsere Satzung, wo einige Dinge festgelegt sind: Das Eintreten für die Interessen der Arbeiter:innenklasse, gegen Faschismus, Rassismus, Patriarchat, Kriegsgefahr, auch gegen Antisemitismus. Wenn du dich dafür einsetzt, ist die Chance, von uns unterstützt zu werden, sehr hoch.
taz: Derzeit zerfleischt sich die Linke vor allem am Nahostkonflikt. Wie versucht die Rote Hilfe, in dieser Frage strömungsübergreifend zu bleiben?
Stoltzenberg: Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt zunächst einmal auf der Situation hier in Deutschland. Und da sehen wir, wie diese Proteste, die weitestgehend – wenn auch nicht immer – von Gruppen mit linkem und fortschrittlichem Selbstverständnis getragen werden, massiv angegriffen und niedergeknüppelt werden. Wie auf Demos verboten wird, bestimmte Slogans oder sogar bestimmte Sprachen zu sprechen. In Berlin hat der Senat den gewalttätigen Angriff auf Lahav Shapira zum Anlass genommen, ein neues Hochschulgesetz durchzusetzen, durch das auch fortschrittliche Kräfte exmatrikuliert werden können – ohne, dass es dafür ein richterliches Urteil wegen eines Vergehens bräuchte. Das ist eine Ausweitung von Repression, die auch andere soziale Bewegungen treffen wird. Heute geht es um Palästinasolidarität, morgen vielleicht darum, dass man was gegen die AfD gesagt hat.
taz: Kurz nach dem 7. Oktober hat die Rote Hilfe dem PFLP-nahen „Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene“, Samidoun, die Solidarität entzogen. Die Berliner Ortsgruppe hat diese Entscheidung öffentlich kritisiert. Wo sind in Sachen Palästina-Solidarität die roten Linien der Roten Hilfe?
Stoltzenberg: Bei der Entscheidung, Aktivist:innen zu unterstützen, halten wir uns stark an unsere Satzung, die Antisemitismus ausschließt. Bei Unterstützungsfällen gucken wir uns deshalb immer den Einzelfall und den Gesamtkontext an, bevor wir eine Entscheidung treffen. Das heißt, wir teilen natürlich nicht den Pauschalvorwurf des Antisemitismus gegen die palästinasolidarische Bewegung, aber wir sind sensibilisiert und gucken genau hin. Das führt manchmal – wie mit der Berliner Ortsgruppe – zu starken Diskussionen und Kontroversen. Aber das heißt nicht, dass wir nicht mehr zusammenarbeiten. Es ist eine fortlaufende Diskussion, die so lange nicht abgeschlossen sein wird, wie es die Solidaritätsbewegung und die Repression gibt.
taz: Im Interesse der gesamten politischen Linken: Was ist das Erfolgsrezept, sich nicht zu zerspalten?
Stoltzenberg: Ich glaube, wir versuchen, immer das große Ganze zu sehen. Dass die Rote Hilfe für alle linken und fortschrittlichen Menschen ein unglaublich wichtiger Anker ist, dass wir diese Verantwortung annehmen müssen, auch wenn man sich mal über Aussagen ärgert. In der Roten Hilfe kommen viele Menschen zusammen, die sich sonst inhaltlich nicht finden würden – und die dann feststellen, dass es eben auch geht, zu einem bestimmten Punkt zusammenzuarbeiten. Klar, es knallt auch manchmal, aber es geht. Das ist aus unserer Sicht ein Erfolgskonzept für linke Arbeit.
taz: Was erwarten Sie, wie wird sich die Repression in den nächsten Jahren weiterentwickeln?
Stoltzenberg: Was ich befürchte – obwohl es gerne anders kommen darf – ist, dass die Repressionen gegen die migrantische Linke, vor allem gegen Kurd:innen, weiter fortschreiten wird. Zum Beispiel die Tendenz, dass Deutschland – wie kürzlich im Fall Kenan Ayaz – auch im Ausland im Dienste der Türkei kurdische Politiker:innen verfolgt. Dann werden Wahlerfolge der AfD Proteste gegen rechts auslösen, die erwartungsgemäß durch staatliche Repression sanktioniert werden. Es wird um die Erhaltung unserer politischen Grundrechte gehen, um fortschrittliche Kultur, Interkulturalität, queere Strukturen. Das sind alles Sachen, die in Gefahr sind, weshalb wir in den nächsten Jahren unterstützend an der Seite der Bewegungen kämpfen werden, so gut wir können.
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