Jedem Kind die eigne Zeit

Linke legt Entwurf für inklusives Schulgesetz vor. Kein Abschulen mehr und Anspruch auf individuelle Lernförderung. Mit im Autorenteam war der frühere Staatsrat Ulrich Vieluf

Neigungen sind Ergebnisse von Bildung: Schulklasse im Museum Foto: Markus Scholz

Von Kaija Kutter

SPD, CDU, FDP und Grüne haben sich kürzlich auf eine Verlängerung des „Schulfriedens“ geeinigt, das heißt, das Gymnasium wird nicht angetastet. Die Linke macht da nicht mit. Sie legte gestern ein 121-Seiten-starkes Schulgesetz vor, das zeigt, wie es anders gehen kann. Der eigene Paragraf fürs Gymnasium fällt darin weg. Diese Schulen dürfen sich weiter so nennen und ein Abitur nach acht Jahren anbieten, aber sie dürfen nicht mehr Kinder wegen mangelnder Leistung abschulen.

Nun wird die Linke vermutlich nicht nach der nächsten Wahl mitregieren. Aber auch aus der Opposition heraus ließen sich Initiativen entwickeln und „Erwartungsdruck auf die Regierung ausüben“, sagt die Schulpolitikerin Sabine Boeddinghaus. Der Kerngedanke sei, dass jede Schule „volle Verantwortung für ihre Schüler übernimmt“.

Das heißt: Ab der 5. Klasse gibt es schlicht die „Weiterführende Schule“ (Paragraf 15), das kann eine Stadtteilschule, ein Gymnasium oder eine Sonderschule sein. Im Zuge einer echten Inklusion soll es auch Sonderschulen erlaubt sein, alle Kinder aufzunehmen. Hörende könnten an einer Schule für Gehörlose Gebärdensprache lernen. Auf den Begriff „sonderpädagogischer Förderbedarf“ wird verzichtet.

Das Motto soll sein: „lernen im eigenen Takt“, sprich jedem Kind die eigne Zeit. Alle Kinder lernen bis Klasse zehn zusammen. Danach können sie eine Ausbildung beginnen oder in eine Oberstufe eintreten. Das Besondere: Ab Klasse elf gibt es eine „Einführungsstufe“, die ein oder zwei Jahre dauern kann. „Es gibt junge Menschen, bei denen in Klasse 11 die Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen, um den fachspezifischen Anforderungen der Oberstufe gerecht zu werden“, erläutert der Schulforscher Ulrich Vieluf, der am Gesetz mitschrieb. Damit diese „Deutsch-Barriere“ sie nicht hindere, ihr Potential zu entfalten, bräuchten manche zwei Jahre Vorbereitungszeit und damit 14 Jahre bis zum Abitur.

Das neue Schulsystem wäre radikal offen. Kein Kind darf aufgrund von Herkunft oder einer Behinderung vom Besuch der „Schule seiner Wahl“ ausgeschlossen werden, heißt es in der Präambel. Ist die Kapazität einer Schule erschöpft, sollen die Schulweglänge oder das Los entscheiden „ohne Ansehen der Person“. Bildungskonferenzen sollen „regionale Schulentwicklungspläne“ erarbeiten.

Im Paragraf 1 des gültigen Gesetzes steht, jeder junge Mensch habe das Recht, sich nach seinen Fähigkeiten, Neigungen und Möglichkeiten zu bilden. Diese drei Einschränkungen würden gestrichen. Denn sie seien bereits Ergebnisse und nicht Voraussetzungen von Bildungsprozessen, und „Begriffe aus dem 19. Jahrhundert“, sagt Vieluf.

„Kein Gymnasium kann mehr sagen: Der Schüler passt nicht zu uns“

Ulrich Vieluf, Ex-Staatsrat

Es impliziere, das Kind müsse zur Schule passen und nicht die Schule zum Kind. Hier verändere das Gesetz die Perspektive. „Es gibt einen Rechtsanspruch auf individuelle Lernförderung“, erläutert Vieluf. „Kein Gymnasium kann mehr sagen: Der Schüler passt nicht zu uns.“

Die Linke will das Gesetz zur Diskussion stellen und nach der Wahl ins Parlament einbringen. Der Entwurf gilt als ein Vorschlag zur echten Umsetzung der UN-Behinderten- und UN-Kinderrechtskonvention. Ulrich Vieluf war Staatsrat unter der Schulsenatorin Christa Goetsch (Grüne), die 2009 versuchte, die sechsjährige Grundschule einzuführen.

„Damals haben wir weniger Empirie gehabt“, sagt Vieluf. Heute wisse man besser, worin die Verzögerungen in Bildungsverläufen liegen können und „wie individuelles Lernen gut funktioniert“.