Vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen: Wenn wir hier verkacken, dann überall
NRW war immer SPD-Stammland – jetzt will die AfD ran an die Arbeiter. Eine Milieu-Reportage aus Essen.
Nicole Pawelczyk betritt die Kneipe und setzt sich neben Reil. Sie hat ein rundes Gesicht, in den Ohrläppchen stecken Kunstperlen. Plötzlich steht der SPD-Mann am Tisch. Er umarmt die Frau, grüßt knapp in die Runde und geht wieder.
Noch vor einem guten Jahr hätten sie im Alt-Carnap alle zusammengesessen. Pawelczyk, 29, war fünf Jahre lang in der SPD, ein Jahr im Vorstand des Ortsvereins. 2016 ist sie gemeinsam mit ihrem Freund ausgetreten. Wegen der Flüchtlinge. Und wegen Reil. „Die SPD vertritt die Interessen der kleinen Leute nicht mehr“, sagt sie. Bei der Landtagswahl will sie AfD wählen.
Das Alt-Carnap ist die letzte Kneipe im Stadtteil, zwei andere haben geschlossen, wie so vieles im Norden des Ruhrgebiets. Die meisten Zechen und Industrieanlagen haben vor Jahrzehnten dicht gemacht, danach kam nicht mehr viel. Einige Straßenzüge erinnern an die trostlosen, deindustrialisierten Zonen in Nordfrankreich. Viele, die früher Sozialisten und Kommunisten wählten, sind zum Front National übergelaufen. In Frankreich wählte die Hälfte aller Arbeiter im ersten Wahlgang Le Pen. Genau das will die AfD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wiederholen.
Ein Malocher zum Vorzeigen
Sie inszeniert sich im Ruhrgebiet als neue Malocherpartei gegen die alte SPD. Dafür hat sie hat eine Figur, die ein Geschenk für rechtspopulistische Kampagnenplaner ist: Guido Reil. Er ist ein Malocher zum Vorzeigen, arbeitet als Bergmann in der letzten Zeche in NRW, ist Gewerkschafter und AWO-Mitglied. Und er war 26 Jahre lang in der SPD.
Die Rechtspopulisten hoffen, dass ihnen mit Reil ein Coup gelingt wie in Sachsen-Anhalt. Dort wurden sie auf Anhieb zur stärksten Partei bei Arbeitern und Arbeitslosen. Die AfD-Spitze glaubt, dass Reil im Wahlbezirk Essen I der SPD sogar das Direktmandat abjagen kann.
Stephan Duda, SPD
Nicole Pawelczyk trat 2011 in die SPD ein. Sie wollte etwas für den Stadtteil machen, Karnap sollte nicht ganz vor die Hunde gehen. „Da geht man hier zur SPD“, sagt Pawelczyk, inzwischen hat die Wirtin ihr ein Bier gebracht. Mit ihrem Freund organisierte sie ein Fest auf dem Marktplatz, setzte sich für den Erhalt des einzigen Supermarkts ein, bekämpfte die Tauben unter der Brücke. Dann sollten in Karnap ein paar hundert Flüchtlinge in einem Zeltdorf untergebracht werden.
„Ich habe nichts gegen Flüchtlinge“, sagt Pawelczyk, „aber das waren für Karnap einfach zu viele.“ Als die Flüchtlinge kamen, hatte sie Angst, abends allein die Straße zu gehen. „Sowas durfte man in der SPD aber nicht sagen.“ Pawelcyk störte, dass viel mehr Flüchtlinge in den armen Essener Norden kommen sollten als in den reichen Süden. Sie engagierte sich in der Bürgerinitiative „Carnaper Originale“ gegen das Zeltdorf.
Stephan Duda, der Mann am Nebentisch, der Pawelczyk umarmt hatte, ist in der SPD geblieben. Duda, 46, gilt im Stadtteil etwas. Er ist Vorsitzender der Karnaper SPD, des Fußballvereins, des Gartenbauvereins. Ende 2015 hatte er noch mit Reil und Pawelczyk protestiert. Am Schreibtisch entwarf er einen Flyer: „Der Norden ist voll“, stand darauf. Da kommt der Rechtsradikale von der SPD, das hat Duda damals öfter gehört. Ein komplettes Missverständnis, sagt er, hatte er doch Fußballspiele mit Flüchtlingen und einen runden Tisch organisiert. Duda wollte eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Essen, nicht mehr. Sein Slogan „Der Norden ist voll“ war ein Fehler, sagt Duda. Er klang wie „Das Boot ist voll“.
Duda ärgerte sich über seine Partei, aber die SPD verlassen, das kam für ihn nicht infrage. „Mach dat nich“, hatte Duda zu Reil gesagt, als der zur AfD ging.
Heute sehen sich die drei nicht mehr bei der Ortsversammlung, sondern mal beim Einkaufen oder eben in der Kneipe. Am Tisch mit den Abtrünnigen wird das nächste Bier bestellt. Nachdem Reil die SPD verlassen hatte, sprachen viele Genossen schlecht über ihn. „So sollte man mit niemandem umgehen“, sagt Pawelczyk und blickt auf Reil. „Rein menschlich schon.“ Auch sie verließ die SPD.
Hier, im Alt-Carnap, ist die AfD kein Fremdkörper mehr. Viele, die am Tisch vorbeikommen, werfen Reil freundliche Worte zu. „Guido, halt ’ne gute Rede morgen“, sagt ein älterer Mann.
***
In Essen-Frintrop ist an einem Dienstagnachmittag vor Ostern die sozialdemokratische Welt noch in Ordnung. Im Bürgerhaus sind die Tische eng zusammengeschoben. Gut hundert Rentner sind zum Treffen der Arbeiterwohlfahrt gekommen. Orange Gardinen, Bienenstich auf dem Teller, Papierdeckchen. Aus den Boxen hämmert das Clublied: „Im Herzen von Nordrhein-Westfalen liegt unser schönes Ruhrgebiet / Die Heimat für Millionen Menschen, von allen wird es geliebt“. Heimat. Menschen. Liebe. Einige schunkeln. Die Damen trinken Kännchen, die Herren schon mal ein Pils. Es riecht nach Wir und Zusammenhalt in einer Welt, die sich schnell verändert. Die Älteste ist 102, ihre Tochter, auch Rentnerin, sitzt neben ihr.
Thomas Kutschaty, der SPD-Direktkandidat in Essen I, steht am Eingang des Saals. Er ist der Platzhirsch in Essen-Nord, der Gegenkandidat von Reil. Ihn muss die AfD besiegen.
Die sozialdemokratische Erzählung als Brühwürfel
„Kann ich noch rumgehen, Postkarten für die Briefwahl verteilen?“, fragt Kutschaty, betont bescheiden. Kutschaty, 48, muss eigentlich nicht fragen. Er ist Justizminister in Düsseldorf und SPD-Chef in Essen. In einer knappen Rede sagt er, dass sie, die Alten, das Land aufgebaut und die Jüngeren davon profitiert hätten. Dass er der Erste in seiner Familie war, der aufs Gymnasium gehen konnte. Das ist die sozialdemokratische Erzählung als Brühwürfel, vom Aufstieg durch Bildung, von Zusammenhalt und Solidarität.
Nach seiner Rede geht Kutschaty durch die Reihen, schüttelt Hände von Senioren, die nach der Zukunft des nahe gelegenen Supermarkts fragen.
Am Ende seiner Runde steht Dirk Busch, dem Kutschaty ein kurzes „Tach“ zuwirft, mehr braucht man hier nicht zu sagen. Busch, kariertes Hemd, Schlüsselbund am Gürtel, ist hier der Chef – der AWO, aber auch der SPD im Stadtteil. Alles ehrenamtlich. Die SPD hat hier 147 Mitglieder, die AWO 380. Früher war das Verhältnis eins zu eins. Wer AWO war, war SPD. „Den Automatismus gibt es nicht mehr“, sagt Busch. „Der Nachwuchs bei der AWO, das bin ich.“ Er ist 57 Jahre alt.
Früher, in den glorreichen Zeiten der Ruhrgebiets-Sozialdemokratie, waren Mieterverein und Gewerkschaft, Stadtverwaltung und Partei, AWO und Fußballverein verschiedene Teile desselben sozialen Körpers. Arbeiter wie der Elektroinstallateur Busch stehen dafür noch heute. Wer Probleme mit Schule, Job, Wohnung hatte, ging zum Betriebsrat, der sowieso in der SPD war. Man kannte sich. Die Verwischung von Amt und Interessen war eine Nährlösung für den Filz, der über die Jahrzehnte immer dichter wurde.
Kutschaty verabschiedet sich von Busch und den Senioren, er muss zum nächsten Wahlkampftermin. Seit einem Jahr ist er zusätzlich zum Ministerjob und dem Direktmandat auch SPD-Chef in Essen. „Das war kein Amt, nach dem ich mich gedrängt hatte“, sagt er. Kutschaty hatte keine Wahl. Die Essener SPD hat es sogar für Ruhrgebiets-Verhältnisse zu einer erstaunlichen Frequenz von Affären gebracht. Ein Parteichef musste nach Spendenskandal und Konkursverschleppung ins Gefängnis, eine Bundestagsabgeordnete gab 2016 ihr Mandat zurück, weil sie ihren Lebenslauf um Abitur und Jurastudium bereichert hatte. Die letzte Oberbürgermeisterwahl gewann die CDU. Und nun Reil, der Abtrünnige, und die AfD.
Die SPD hat in NRW noch 108.000 Mitglieder, im Jahr 2000 waren es fast doppelt so viele. Und sie ist eher männlich, alt und deutsch in Gegenden, die migrantisch und jung sind. Bei der AWO im Essener Norden ist sie noch die Heimatpartei. Aber sie schwächelt.
In Essen lebt jeder fünfte von Geld vom Staat. Als Kutschaty vor Kurzem um neun Uhr morgens eine Kita besuchte, war die fast leer. Die Kinder kommen später, erklärten die Erzieherinnen, Hartz-IV-Familien halt. Die Essener SPD hat eine Sozialberatungsstelle eröffnet. Solche Hilfen für Hartz-IV-Empfänger bietet sonst die Linkspartei an, aus der SPD gibt es das nur in Essen. „Die Sozialberatung“, sagt Kutschaty, „ist der Versuch, eine Klientel zurückzugewinnen, die wir verloren haben.“
Das ist schwierig. Denn die Hartz-IV-Klientel ist nicht empfänglich für die sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch Bildung, ist taub für die Lobreden von Schulz auf die hart arbeitenden Menschen. Wer Hartz IV bekommt, wählt öfter Protestparteien – wie die AfD.
***
Ein Tag nach dem Besuch in der Kneipe, ein Samstagvormittag Anfang April. Die AfD hat auf den Marktplatz in Altenessen zum Wahlkampfauftakt geladen. „Wir rocken NRW“ steht auf der Einladung. Um kurz nach zehn fährt Guido Reil mit seinem blauen VW-Bus auf den Marktplatz. „Der Steiger kommt! Guido on Tour!“ steht auf dem Bus, daneben Reils Gesicht mit Helm und Grubenlampe, das Gesicht von Kohle geschwärzt. Das Foto ist gestellt, die Kohle hat Reil aus seinem Keller geholt, verrät er später.
Als er aus dem Bulli springt, brandet Applaus auf. „Guido!“, ruft eine Frau. Reil trägt eine Daunenweste über dem karierten Hemd, die so knallblau ist wie das Logo seiner Partei. Er geht von Gruppe zu Gruppe, schüttelt Hände, klatscht auf Schultern.
Was ihm auf der Seele brennt
Die Partei gibt alles, um auf dem Platz, der von allen Seiten von Polizisten abgeschirmt wird, Nostalgie aufkommen zu lassen. Das Steigerlied, die Bergbauhymne, wird angestimmt und „Glück auf“ skandiert. Jörg Meuthen und Frauke Petry, die zerstrittenen Bundesvorsitzenden, bekommen Steigerlampen überreicht. Ruhrpottfolklore. Doch trotz der Prominenz bleibt der Marktplatz halb leer. Nicht einmal die Hälfte der angemeldeten tausend TeilnehmerInnen sind gekommen. „Das ist totaler Mist“, sagt Reil. „Wenn wir hier verkacken, dann überall.“
Dann springt er auf die Bühne, spricht über Solidarität und Gerechtigkeit „die Werte der AWO“, wie er sagt. „Die AWO will mich rausschmeißen, weil ich anderer Meinung bin“, sagt er und läuft auf der Bühne auf und ab. „Für mich ist das Faschismus.“ Dann sagt er, dass sich die SPD nicht mehr um die kleinen Leute kümmere, sondern nur noch um die Posten der Funktionäre. Dass für die Flüchtlinge viel und für die Rentner wenig Geld da sei, dass Rot-Grün den Ruhrpott kaputt mache und wieder Industrie und Kraftwerke gebraucht würden. Reil redet schnell, in der Ruhrpottfärbung des Essener Nordens.
Vor der Bühne steht Pawelzyk vor ihrem Freund, beide in Outdoorjacken, er hat die Arme um ihre Taille gelegt. „Das, was er immer sagt“, sagt Pawelczyk, während sie klatscht. Sie meint das anerkennend. Reil ist für sie einer, der sich nicht verbiegt, egal ob er auf dem Sofa sitzt, in der Kneipe oder auf einer Bühne auf dem Marktplatz steht. Ihr Freund nickt. „Guido ist halt authentisch“, sagt er.
Mit diesem Image hat es Reil zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Gerade ist sein Buch „Wahrheit statt Ideologie. Was mir auf der Seele brennt“ erschienen. Bei der AfD wird er bundesweit herumgereicht, er tritt in Talkshows auf. Vor wenigen Tagen wurde sein Auto demoliert, jemand hat in großen Lettern „Arbeiterverräter“ auf seine Garage gesprüht. Es ist eine Antwort auf ein Wahlplakat mit seinem Gesicht: „Vertritt die Interessen der kleinen Leute, anstatt sie zu verraten“.
Die AfD stellt sich mit Reil als Arbeiterpartei dar. Doch die Rolle passt nicht recht zum Programm. Der Front National setzt in Frankreich sozialpopulistisch auf höhere Löhne und die Rente mit 60. Die AfD ist dagegen in vielem neoliberal, fordert mehr Markt und weniger Staat. Sie zielt auf Leute, die Angst haben, etwas zu verlieren, Leute wie Pawelczyk und ihren Freund. Sie ist Arzthelferin, er arbeitet als Techniker bei einer Wohnungsbaugesellschaft. Sie wohnen in einer Bergbausiedlung mit kleinen Häusern aus rotem Backstein, von denen es im Ruhrgebiet einige gibt. Das Haus gehört ihm, hinten ein Garten, vor dem Haus blüht eine Magnolie. Klingt idyllisch – aber wie lange noch?
Pawelczyks Freund glaubt, dass es einen „großen Knall“ geben werde, das habe er in einem Buch aus dem rechten Kopp-Verlag gelesen, „Was Sie nicht wissen sollen“, heißt es. Manchmal träumen die beiden von einem Leben auf dem Land – weit weg von den Problemen im Essener Norden.
„Guido Reil, wie tief bist du gesunken!“, brüllt ein kleiner, drahtiger Mann vom Rand des Marktplatzes. „Der missbraucht die Steigerhymne“, sagt der Mann leiser und stellt sich vor: Gerd Peter Wolf, 64, war in den 80er Jahren SPD-Landtagsabgeordneter. Sein Vater war Bergmann, er machte Karriere.
„Ich will Gentrifizierung“
Damals schloss die Zeche „Zollverein“, eine Kokerei und Schachtanlage so groß wie die Essener Innenstadt. Wolf setzte sich dafür ein, dass das Gelände nicht plattgemacht, sondern zum Denkmal wurde. Eine Million Besucher kommen jedes Jahr, „Zollverein“ ist Unesco-Welterbe. Demnächst öffnet dort eine Hochschule für Design. „Ich will Gentrifizierung“, sagt Wolf mit Lust an der Provokation. Er will den reichen Süden von Essen in den armen Norden holen.
Das ist zwar kein Allheilmittel für den verarmten Norden, zeigt aber, dass etwas wachsen kann, wo die Industrie unterging. Reil dagegen schürt die Illusion, dass Bergbau und Schwerindustrie eine Zukunft haben. Dass alles wieder so wird, wie es früher war.
***
Auch der SPD-Kandidat Kutschaty war auf dem Markt in Altenessen und hat sich seinen Konkurrenten Reil angeschaut, „als Zaungast“, wie er sagt. Heute steht Kutschaty selbst auf einem Marktplatz in Essen-Borbeck und verteilt am SPD-Infostand geduldig Kugelschreiber.
Es ist Vormittag, an den Ständen werden Kartoffeln und vier Paar Socken für 2,50 verkauft, vor allem an Rentner. Es geht gemütlich zu, kleinstädtisch und entspannt. „Grüßen Sie Ihren Vater“, sagt eine Dame mit Rollator zu Kutschaty. Hier ist er „der Thomas“, der zwischen den Wahlkampfterminen rasch nach Hause geht und für die Tochter Spargelsuppe kocht. Die Stimmungsmache der AfD gegen die abgehobenen Eliten perlt an ihm ab. Er ist in seinem Leben dreimal umgezogen. Immer in Essen, nie weiter als drei Kilometer. Ein Aufsteiger mit Bodenhaftung.
Ein Mann mit Brille und Baseballcap strebt zielstrebig auf den Wahlkampfstand zu, gibt sich einen Ruck und fragt Kutschaty: „Was tun Sie gegen Ausländerkriminalität?“
Kutschaty stutzt, sagt, „dass wir gegen jede Kriminalität vorgehen, egal ob von Deutschen oder von Ausländern“, dass es zehn Prozent mehr Staatsanwälte in NRW gebe, dass die Kriminalität in manchen Bereichen rückläufig sei. Der Mann unter der Baseballcap findet, dass es ein Unding sei, eine Million Ausländer ins Land zu lassen. Dass die Renten knapp seien. Dass die Bürger die Schnauze voll hätten.
Bürgerwut und Politikerverachtung
Kutschaty weist darauf hin, dass Flüchtlinge mit dem Rentenniveau nichts zu tun hätten. „Sind Sie auf der Straße schon mal bedroht worden?“, fragt er den Mann. Nun ja, sagt der, eigentlich nicht. Sie leben in einem der sichersten Länder, sagt Kutschaty, der eine Selbstsicherheit ausstrahlt, die ihr hässliches Geschwister, die Überheblichkeit, nicht braucht.
„Das nehm ich mal so hin“, sagt der Mann und dreht sich grußlos auf dem Absatz um.
Dieser Dialog ist in Zeiten von Bürgerwut und Politikerverachtung wohl geglückte Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten zu nennen.
Kutschaty macht den Eindruck, dass er jedes Übel in handhabbare Teile zerlegen kann, die so lange analysiert werden, bis alles nicht mehr so schlimm zu sein scheint. „Es gibt keine Massenabwanderung von der SPD zur AfD im Essener Norden“, sagt Kutschaty. Alles übertrieben.
Bei der Wahl vor fünf Jahren bekam Kutschaty 58 Prozent der Erststimmen, sieben Prozent mehr als die SPD Zweitstimmen erhielt. Dass Reil gegen ihn das Direktmandat gewinnt, wäre ein Wunder.
Und dennoch: Reil hat es geschafft, in das angestammte Milieu der SPD einzudringen. In Essen-Karnap zeigt sich wie unter dem Mikroskop, was Rechte brauchen, um ihren Erfolg in Frankreich, Österreich oder den USA in Deutschland zu wiederhole n: Eine charismatische Person in einer strukturschwachen Region, die ein ängstliches Kleinbürgertum mobilisiert. Essen-Karnap zeigt aber auch, was den Erfolg von Rechtspopulisten verhindert und was Deutschland trotz allem von Ländern wie Frankreich unterscheidet: Eine Sozialdemokratie, die in der Bevölkerung verwurzelt ist.
Die Rechtspopulisten, glaubt Kutschaty, seien auf dem absteigenden Ast. Weil es keine überfüllten Sporthallen mehr gibt, keine Kämpfe mehr gegen Flüchtlingszelte. „Oder sehen Sie hier auf dem Borbecker Markt Flüchtlinge?“, fragt er und schaut sich um.
Es ist alles wieder normal. Das ist die Botschaft der SPD. Und ihre Hoffnung.
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