Vor den Landtagswahlen in Sachsen: Sich überlappende Ränder
Wenn Sachsens Regierungschef Kretschmer (CDU) AfD-Spitzenmann Urban begegnet, schaut er weg.
Am ersten Donnerstag im August, es ist ein freundlichen Abend, hat Rößler den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen in den „Goldenen Anker“ in Radebeul geladen, die Gastwirtschaft liegt im Wein- und Kunstviertel der Kleinstadt, etwa zehn Kilometer von Dresden entfernt.
Vor Aufstellern der Werte-Union spult Maaßen seine Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin ab, bescheinigt Pegida-DemonstrantInnen „sachliche Kritik“ und zeichnet das Bild einer Meinungsdiktatur, in der man nicht sagen dürfe, was man denkt. Dass Maaßen eine Koalition mit der AfD für grundsätzlich möglich hält, ist weithin bekannt.
Wenig später steht der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier am Mikrofon, der mit anderen Abgeordneten und zahlreichen AnhängerInnen seiner Partei im Publikum sitzt. „Jeder sieht an Maaßen, was in Deutschland mit einem passiert, wenn er die Wahrheit sagt“, ruft Maier in den Saal. Und erntet donnernden Applaus – deutlich mehr, als Rößler an diesem Abend bekommt. Rößler greift nicht ein. Später warnt er vor einer Koalition mit zu vielen Partnern, die „politischen Stillstand“ bedeuten würde. Dass nach allen Umfragen derzeit eine Zweierkonstellation nur mit der AfD möglich ist, sagt er nicht.
Das letzte Stammland der Christdemokraten
Eine Woche später tritt Rößler in Coswig auf, einer Kleinstadt Richtung Meißen, die ebenfalls in seinem Wahlkreis liegt. Zum Kaffeekränzchen in der „Spitzgrundmühle“ sind überwiegend RentnerInnen gekommen. Stargast ist Kurt Biedenkopf, 89, der das Land bis 2002 mit absoluter Mehrheit regierte und damals behauptete, die Sachsen seien gegen Rechtsextremismus immun. Doch jetzt zieht Biedenkopf über die europafeindliche AfD her, nennt sie eine „Täuschungsveranstaltung“. Später sagt er auf Nachfrage: „Wenn die Sachsen wirklich so wählen, schließen sie sich selbst aus der Gemeinschaft der Länder aus.“
Wirklich so wählen, das heißt nach den Umfragen der letzten Wochen: Etwa ein Viertel der WählerInnen könnten am kommenden Sonntag der AfD ihre Stimme geben, die radikal rechte Partei hat sogar die Chance, stärkste Kraft zu werden. Seit Wochen lieferten sich die beiden Parteien in den Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen, erst in den letzten Tagen konnte die CDU einen deutlichen Vorsprung gewinnen.
Sachsen ist das letzte Stammland der Christdemokraten, keine andere Partei hat hier nach der Wende den Ministerpräsidenten gestellt. Doch nach der Wahl am Sonntag wird eine Regierungsbildung kompliziert. Eine Zweier-Koalition wäre nur mit der AfD möglich. Damit liebäugeln zwar durchaus manche in der CDU und das nicht nur in der Werte-Union in Radebeul, doch Ministerpräsident Michael Kretschmer, der Spitzenkandidat, hat eine Zusammenarbeit mit der AfD ebenso ausgeschlossen wie mit der Linkspartei. Auch eine Minderheitsregierung werde es nicht geben, versprach er zuletzt. Da bleibt nicht viel übrig.
Was geschieht, wenn Kretschmer hinwirft?
Die CDU wird also mindestens zwei Partner brauchen – das könnten SPD und Grüne sein. Die SPD allerdings, bislang an der Seite der CDU in der Koalition, nähert sich in den Umfragen langsam der Fünfprozenthürde, die Grünen sind in der ausgesprochen konservativen sächsischen Union herzlich unbeliebt. Kohleausstieg, der Umgang mit Wölfen, das neue Polizeigesetz – die Christdemokraten sehen vieles fundamental anders als die Ökopartei. Ob die FDP in den Landtag einzieht, ist ungewiss. Was also, wenn es in Kretschmers Raster keine Mehrheit gibt? Oder der Ministerpäsident ein so schlechtes Ergebnis einfährt, dass sein Stuhl wackelt?
Dann befürchten in Sachsen manche, dass eine Post-Kretschmer-CDU doch eine Liaison mit der AfD wagen könnte. Ist sie inhaltlich in vielen Punkten nicht ohnehin den radikal Rechten näher als den Grünen? Hatte nicht Rößler vor einer Koalition mit vielen Partnern gewarnt? Und hatte nicht CDU-Fraktionschef Christian Hartmann eine Koalition mit der AfD anfangs nicht wirklich ausgeschlossen? Es wäre ein Dammbruch.
Offiziell grenzen sich die sächsischen Christdemokraten – inklusive Rößler und Hartmann – derzeit unmissverständlich von der AfD ab. Ministerpräsident Michael Kretschmer, der im Dezember 2017 als Nachfolger des resignierten Stanislaw Tillich ins Amt gekommen ist, hat sich von der Kanzlerin abgesetzt und manche Positionen etwa im Bereich innere Sicherheit und Russland betont, die denen der AfD ähneln. Aber er hat seinem ohnehin stramm konservativen Landesverband keinen populistischen Rechtsschwenk verordnet, um Stimmen von der AfD zurückzuholen oder beide Parteien kompatibler zu machen.
Michael Kretschmer
Beim Wahlkampfauftakt in seinem Görlitzer Wahlkreis sitzen die BesucherInnen auf ausrangiertem Kirchgestühl in einer Scheune, die meist als Kino dient. Kretschmer redet viel, doch erst auf konkrete Nachfrage sagt er: „Ich sage Ihnen vor der Wahl, was ich denke: ‚Volksverräter‘, ‚Deutschlandhasser‘, das geht uns gegenüber gar nicht. Und der ‚Beginn der Jagdsaison‘ beim AfD-Wahlkampfauftakt in Cottbus noch weniger.“ Selten nennt Kretschmer den Gegner AfD beim Namen, er attackiert sie meist nur indirekt. So wie beim Chemnitzer Programmparteitag Ende Juni, als er gegen „Hysterie und Panikmache“ und gegen jene wetterte, „die alles nur kaputtmachen und zerstören wollen“.
Der Ministerpräsident ist unentwegt unterwegs, sucht das Gespräch mit den Menschen. Seine Staatskanzlei hat das Format der „Sachsengespräche“ entwickelt, zu denen oft das halbe Kabinett anrückt. Umfragen bescheinigen Kretschmer hohes Engagement und große Kontaktfreude, bei zwei Dritteln der Sachsen ist er populär. Doch bei der Bundestagswahl verlor er sein Direktmandat in Görlitz an die AfD, die Partei wurde zudem in Sachsen stärkste Kraft. Letzteres wiederholte sich bei der Europawahl, wenn auch weniger deutlich.
Bei der Abstimmung über den Görlitzer Oberbürgermeister konnte sich der CDU-Kandidat gegen den der AfD am Ende nur durchsetzen, weil die anderen MitbewerberInnen vor dem zweiten Wahlgang zurückzogen. Vielleicht verpufft Kretschmers Gesprächsoffensive bei den Gutwilligen und Debattenfähigen und die Motzkis erreicht er nicht. Sebastian Wippel, der Görlitzer OB-Kandidat der AfD, tritt nun gegen Kretschmer als Direktkandidat für den Landtag an.
Am vergangenen Mittwoch steht der Ministerpräsident auf einer Bühne im Dresdener Congress Center. Hinter den großen Fenstern links und rechts der Bühne fließt die Elbe dahin. Es soll um die aus Sicht der Redaktionen wichtigsten Themen gehen, über die Reihenfolge stimmt das Publikum ab. Bildung gewinnt, gefolgt von innerer Sicherheit und dem ländliche Raum. Migration, das AfD-Kernthema, ist nicht dabei, wird aber später bei der inneren Sicherheit mitverhandelt.
Kretschmer sagt Sätze wie: „Wir sind bei Pisa ganz weit vorne und haben das sozial gerechteste Bildungssystem.“ Oder: „Die Infrastruktur in den ländlichen Räumen ist überwiegend in Ordnung.“ Kretschmer wirbt offensiv für die Positionen der CDU und stellt die Erfolge der Landesregierung heraus, auch verspricht er mehr LehrerInnen und mehr Polizei, vor allem in der Grenzregion. Nach einer Erhebung der sächsischen Staatskanzlei vom letzten Jahr sind etwa 80 Prozent der Menschen mit ihren Lebensumständen zufrieden.
Die AfD demonstrativ ignorieren
Die AfD ignoriert Kretschmer. Nicht nur verbal, sondern auch körperlich. Im Laufe des Abends wird er unter anderem mit Jörg Urban, dem Landeschef und Spitzenkandidaten der AfD, an einen runden Stehtisch gebeten. Kretschmer, der neben dem AfD-Politiker platziert wird, stellt sich etwas abseits vom Tisch, wendet sich fast demonstrativ von Urban ab. Leicht in den Knien wippend spricht er direkt das Publikum an. Selbst wenn Urban redet, schaut Kretschmer von ihm weg.
Die AfD kokettiert seit Monaten damit, die künftige Regierungspartei in Sachsen zu sein. Dem Wahlprogramm zur Landtagswahl hat die Partei den Titel „Regierungsprogramm“ gegeben und wochenlang erwogen, einen extra Kandidaten für den Job des Ministerpräsidenten aufzustellen. Jörg Urban, den Spitzenkandidaten, stellen Parteifreunde auf Wahlveranstaltungen gern als „künftigen Ministerpräsidenten“ vor.
An einem Montag Ende Juni hat Urban HauptstadtjournalistInnen in ein Hotel geladen, das idyllisch am Zeuthener See in Brandenburg gelegen ist. Urban, 55, Wasserbauingenieur, ein schmaler Mann, der gern graue Anzüge trägt, war früher Geschäftsführer der Naturschutzorganisation Grüne Liga. 2013 trat er in die AfD ein, als Ex-Parteichefin Frauke Petry hinschmiss, übernahm er ihre Posten als Fraktions- und Landeschef. Urban, der sich bei Wahldebatten eher gemäßigt gibt, gehört dem „Flügel“ an, der Rechtsaußen-Strömung in der AfD um Björn Höcke.
Eine Regierungspartei AfD: Das glauben nur wenige
An diesem Frühsommertag sitzt Urban im Seehotel, der Blick fällt durchs Fenster auf die Seenlandschaft. Er verkündet: „Sächsische Wähler erwarten, dass wir regieren.“ Und fordert das Innenministerium und zwei „Superministerien“ für den ländlichen Raum und für Bildung. Dort wolle sich die AfD für mehr Unterrichtsstunden in Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften einsetzen, „anstatt nutzloser Geschwätzkompetenzen“.
Hört man sich in der sächsischen AfD um, ist von konkreten Vorbereitungen für ein Regierungsbeteiligung allerdings wenig zu hören. Urban und sein Generalsekretär hätten sich Gedanken gemacht, heißt es. AfD-Landesvize Maximilian Krah sagt allerdings, eine wirkliche Vorbereitungsgruppe gebe es nicht. „Solange Angela Merkel Kanzlerin ist, wird es ohnehin keine Zusammenarbeit geben. Und mit Kretschmer auch nicht.“
Und doch hört man in der AfD immer wieder das gleiche Szenario, was am Ende zu Gesprächen mit der CDU führen könnte. Wenn etwa die AfD stärkste Kraft wird und Kretschmer sein Direktmandat nicht holt, sondern der AfD-Kandidat gewinnt. Wenn Kretschmer dann abtreten muss. Und wenn es dann auch noch mit einer Koalition mit SPD, Grünen und FDP nicht funktioniert. „Wenn die CDU vor den Alternative steht, machen sie es mit uns oder mit den Kommunisten“, sagt einer aus der AfD-Spitze, „dann wird die CDU-Basis aufbegehren.“
Hartnäckig hält sich auch beim aufgeklärten Bürgertum, bei Linken, Intellektuellen und KünstlerInnen das Misstrauen gegen die Sachsen-CDU. Die Frage „Wie hältst du’s mit der AfD“ ist auf Parteitagen nie offen debattiert oder gar mehrheitlich entschieden worden. Immer wieder aber kann man durchaus Sympathien für ein Zusammengehen mit der AfD heraushören. „Die kommen doch meist von uns“, heißt es dann etwa.
Klare Beschlusslage in Berlin
Wie zahlreich die AfD-Affinen in der Sachsen-CDU wirklich sind, vermag niemand verlässlich einzuschätzen; auch Zahlen zu Mitgliedern der Werte-Union gibt es hier nicht. Bei den 60 gut besuchten Wahlforen der Landeszentrale für politische Bildung mit den WahlkreiskandidatInnen sprach sich von diesen niemand für ein Bündnis mit der AfD aus. Und bei einer Umfrage der Leipziger Initiative „Zukunft Sachsen“, die vor Schwarz-Blau warnt, schlossen 44 der 60 CDU-Direktkandidaten eine Zusammenarbeit mit den radikal Rechten aus, die übrigen enthielten sich. Hört man sich auf CDU-Wahlveranstaltungen um, wird ein Zusammengehen mit der AfD meist mit „politischem Selbstmord“ gleichgesetzt. Vor allem ältere Herren aber raten zu einem Abwarten, „wohin sich diese Partei vielleicht entwickelt“.
Seit den Kommunalwahlen Ende Mai, bei denen die AfD gut abgeschnitten hat, werden immer wieder Beispiele schwarz-blauer Zusammenarbeit bekannt. In Meißen hatten CDU und AfD kurz zuvor gemeinsam einen unabhängigen Oberbürgermeisterkandidaten verhindert. In Zwickau zog die CDU ihren Kandidaten für den einzigen Sitz im Verwaltungsrat der Stadtsparkasse zugunsten des AfD-Vertreters zurück. Ähnlich verhielt sich die Union in Freiberg, was der AfD einen Sitz im Planungsverband einbrachte.
In der Bundes-CDU ist die Beschlusslage „klar“, wie Generalsekretär Paul Ziemiak sagt. Ein Parteitagsbeschluss lehnt „Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der rechten Alternative für Deutschland“ ab. Sicherheitshalber hat CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer vor den Landtagswahlen die verabredete Abgrenzung noch einmal betont: „Diese Beschlussfassungen sind getroffen worden unter Einbeziehung aller Landesverbände – und das gilt.“
Der Fall Maaßen zeigt der Bundes-CDU ihre Grenzen auf
Erst vor wenigen Wochen hat Kramp-Karrenbauer sich im Vorstand Rückendeckung dafür geholt, bei Zuwiderhandlungen in den Landesverbänden „jedes Mittel durchzuprüfen, um eine Zusammenarbeit und eine Annäherung an die AfD wirklich auch zu verhindern“. Zuvor hatte nicht nur Ex-Verfassungsschutzchef Maaßen, sondern hatten auch zwei Vizefraktionschefs angeregt, Koalitionen mit der AfD nicht grundsätzlich auszuschließen. Inzwischen hat Maaßen das Ende seines Engagements im Wahlkampf erklärt, offenbar hatte er aber auch gar keine Termine mehr.
Unklar ist jedoch, welche parteirechtlichen Sanktionsmöglichkeiten die CDU hätte. Kramp-Karrenbauer dürfte spätestens gewarnt sein, seit sie jüngst mit Bezug auf Maaßen in einem Interview das Wort „Parteiausschluss“ in den Mund genommen hat. Maaßen war von der Springer-Presse als Innenminister in Dresden ins Spiel gebracht worden. Umgehend grenzten sich Kretschmer, JU-Chef Tilman Kuban und auch Thüringens wahlkämpfender Mike Mohring scharf von Kramp-Karrenbauer ab. Klar ist seither: Prominente Mitglieder wegen Koalitionsaussagen entgegen honoriger Verabredungen von ihrem Tun abzuhalten, wird schwierig.
Setzt sich aber Annegret Kramp-Karrenbauer in dieser Frage nicht durch, war’s das mit ihr an der Parteispitze. Vom Kanzleramt ganz zu schweigen. Und gar nicht erst zu reden vom politischen Vermächtnis von Angela Merkel. Es geht also nicht nur in der sächsischen CDU um viel.
Vom Regieren hält auch der „Flügel“ nicht viel
Allerdings könnte auch in der AfD eine mögliche Zusammenarbeit mit der CDU zu Zoff führen. Denn ein Teil des „Flügels“ setzt grundsätzlich auf Fundamentalopposition und nicht auf Regierungsbeteiligung. Bislang hieß es stets, dass die AfD nur als stärkste Kraft über eine Koalition verhandeln würde. „Wir gehen nur als Seniorpartner in eine Regierung“, sagt Landesvorstandsmitglied Sebastian Wippel, der Mann, der das Direktmandat in Kretschmers Wahlkreis holen will. „Sonst verraten wir uns selbst und das werden wir nicht tun.“Allerdings dürfte Wippel und auch den anderen in der AfD klar sein, dass so ein Einstieg in eine Landesregierung noch schwerer vorstellbar wäre, als das ohnehin der Fall ist. Und regieren will Wippel schon. „Ich halte es da mit Müntefering: Opposition ist Mist.“ Am Ende könnte die Aussicht auf gut dotierte Posten möglicherweise so manchem in der AfD auch eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartner attraktiv erscheinen lassen.
Derzeit sehen die Umfragen eher so aus, als würde die AfD auf Platz zwei landen, laut Demoskopen liegt sie „nur“ noch bei 24 Prozent – das wäre weniger als bei der Bundestags- und der Europawahl. Der Abstand zur CDU vergrößert sich.
Doch auch wenn den einst vor Macht strotzenden sächsischen Christdemokraten diese Schmach erspart bleibt: Nach der Wahl steht der Partei eine Zerreißprobe bevor. Denn die Frage „Machen wir’s mit den Grünen“ ist intern fast ebenso umstritten wie jene nach einem Bündnis mit der AfD.
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