Vor dem Piraten-Landesparteitag: "Ich hatte schlaflose Nächte"
Am Wochenende wählt die Berliner Piratenpartei ihren Landesvorstand neu. Der aktuelle Vorsitzende und Kandidat Gerhard Anger über Schuld, Krisen - und Überraschungen
taz: Herr Anger, bei den Piraten sind Beschimpfungen Ritual, haben Sie mal gesagt. Warum kandidieren Sie erneut als Landesvorstand für so eine Partei?
Gerhard Anger: Ich bin erstaunlicherweise gar nicht so viel beschimpft worden, wie ich es erwartet hatte. Und irgendjemand muss es ja machen, den Vorstandsposten meine ich.
Das klingt nicht, als würde es Ihnen viel Spaß machen.
Es ist schon ein hohes Maß an Pflichtbewusstsein dabei. Als ich vor einem Jahr das erste Mal kandidiert habe, hatte ich einfach das Gefühl, Verantwortung in dieser neuen Partei übernehmen zu wollen, das kam ziemlich aus dem Bauch heraus. Dieses Mal habe ich länger überlegt, also mehrere Wochen. Es ist so: Es macht Spaß, aber es macht nicht alles Spaß. Zum Beispiel gehören Versammlungsleitung und Moderation zu den Sachen, die ich gerne mache. Mir macht es auch Spaß zu diskutieren.
Und was macht keinen Spaß?
Krisen. Krisen machen mir gar keinen Spaß. Und die hat man ja auch immer mal wieder.
Davon hatten die Piraten einige, gerade als Sie im Vorstand angefangen haben.
Am Wochenende wählen Berlins Piraten auf einer Landesmitgliederversammlung in der Moabiter Universal Hall den Vorstand neu.
Neben Amtsinhaber Gerhard Anger kandidiert die Piratin Katja Dathe für den Vorstandsvorsitz.
Seit Mitte Januar stellen sich die Kandidaten für alle zu wählenden Ämter der Basis in regelmäßigen Abständen vor, unter anderem im Kreuzköllner "Kinski".
Tiefere Einblicke unter
Allerdings. Ich glaube, es ging 24 Stunden nach meiner Wahl los. Da kam die Nachricht, dass es bei der Aufstellung der Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl einen formalen Fehler gegeben hatte. Die anschließenden Diskussionen bis zur Wiederholung der Wahl, das waren drei ziemlich harte Wochen. Sowohl organisatorisch als auch atmosphärisch. Also die ganzen Streits und Diskussionen. Das war alles andere als sanft.
Haben Sie überlegt, hinzuschmeißen?
Es gab in den ersten Monaten schon Momente, in denen ich mich gefragt habe, wie ich aus der Sache wieder herauskomme. Verzweiflungsmanagement - so lässt sich das zusammenfassen. Besonders hart war das auf der Landesmitgliederversammlung, bei der die Kandidaten für die Landesliste neu gewählt werden sollten. Es gab zwei Lager, die unterschiedlich vorgehen wollten. Und es bestand die Gefahr, dass ein Teil des Landesverbands aus der Sache als Verlierer hervorgeht. Diese Wochen waren für mich die härtesten.
Und wie sind Sie wieder herausgekommen?
Ich habe einfach weitergemacht. Vorstandstreffen organisiert, Kandidatenvorstellungen, Diskussionen geführt, alles, was so dazugehört. Und mit der Zeit ist es immer besser geworden.
Sie begreifen sich als verwaltenden Vorstand, der nicht mit politischen Aussagen in die Öffentlichkeit geht. Warum?
Ich halte es nicht für sinnvoll und auch nicht für statthaft, als Vorstandsmitglied politische Positionen zu vertreten, die nicht von der Basis getragen sind, wo es also noch keinen Beschluss gibt.
Andere Parteien machen das.
Ja, aber bei anderen Parteien gibt es deutlich mehr Leitlinienkompetenz. Da macht der Vorstand Vorgaben, wie sich bestimmte Positionen entwickeln sollen. Ich glaube, das brauchen wir als Piraten nicht. Wir haben dafür basisdemokratische Verfahren. Die brauchen zwar etwas länger, als wenn ich mir gerade selbst überlege, wie ich zu einem Thema stehe. Aber das ist dann eben so. Meine Aufgabe ist es, die politischen Positionen der Piraten zu vertreten, nicht meine eigenen.
Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war, ein sogenanntes Telefon des Zorns einzurichten, bei dem sich Anrufer mit Beschwerden melden sollten.
Ja, das hängt stark mit den erwähnten Beschimpfungen zusammen und der Frage der Schuld. Ich habe auch eine Änderung der Geschäftsverteilung im Landesvorstand beantragt, damit auch die Schuld verteilt wird. Da steht jetzt drin, dass ich schuld bin und drei andere Vorstandsmitglieder teil- und mitschuld. Der Fraktionsvorstand hat das Konzept übernommen.
Das war aber als Witz gemeint.
Es geht dabei schon etwas darum, wie absurd es ist, immer gleich einen Schuldigen für etwas zu suchen und jemanden zu beschimpfen, wenn etwas nicht funktioniert. Mit dieser Absurdität wollte ich spielen. Der Titel Telefon des Zorns ist ja durchaus grotesk. Auf der anderen Seite war es so gemeint, dass Leute - gerade im Wahlkampf - die Möglichkeit haben sollten, sich direkt an jemanden zu wenden. Und damit die Beschimpfungen anderer Leute etwas abnehmen, damit die in Ruhe arbeiten können.
Trotzdem gab und gibt es ja bei den Piraten auch ernsthafte Krisen - wie die Diskussion um die Listenaufstellung oder das laufende Ausschlussverfahren wegen Erpressungsvorwürfen.
Mir ist es wichtig, auch eine gewisse Distanz zu behalten. Dennoch hab ich mich mit diesen Krisen durchaus ernsthaft auseinandergesetzt und auch schon die ein oder andere schlaflose Nacht gehabt.
Seit September sitzen die Piraten im Parlament - was hat sich seitdem für Sie verändert?
Es ist vor allem mehr Arbeit geworden. Vor der Wahl hatten wir vielleicht 20, 30 Anfragen täglich an den Landesvorstand, mittlerweile ist es ein Vielfaches, weit über hundert.
Was für Anfragen sind das?
Alles Mögliche. Anfragen von Bürgern, von Medien, Einladungen zu Debatten, Anliegen von Initiativen und von Mitgliedern. Deren Anzahl hat sich ja fast verdreifacht. Und alles ist komplexer geworden. Weil es jetzt nicht nur den Landesverband gibt, sondern auch die Fraktionen im Abgeordnetenhaus und in den zwölf Bezirksparlamenten.
Ist das Wachstum gut?
Ja. Wir hatten während des Wahlkampfs das Problem, dass es unheimlich viel zu erledigen gab und immer wieder dieselben Leute ranmussten. Das kann schon mal zu Überlastungen führen. Mit mehr Leuten kann man bessere Ergebnisse erzielen, weil mehr Kompetenzen zusammenkommen.
Einige befürchten karrierefixierte Neumitglieder.
Ich habe bisher kaum solche Fälle erlebt. Natürlich sind schon Leute gekommen, die frisch beigetreten waren und wissen wollten, was sie machen müssen, um ein Bundestagsmandat zu erringen. Aber ich halte die Gefahr für recht gering. Die Piraten sind kritisch genug, bei Listenaufstellungen zu erkennen, wer es ernst meint mit der politischen Arbeit.
Wenn Sie zurückblicken: Was hätten Sie gern anders gemacht im vergangenen Jahr?
Ich würde etwas mehr achtgeben darauf, wie viel ich mache und wie viel ich mich verausgabe. Und da auch bei einigen anderen Piraten darauf achten.
Wenn Sie wiedergewählt werden, sind Sie auch dafür zuständig, den Bundestagswahlkampf 2013 vorzubereiten.
Es ist ja nicht der erste Bundestagswahlkampf für die Piraten.
Aber der erste, bei dem es eine realistische Chance auf Einzug in den Bundestag gibt.
Klar. Sagen wir so: Die Piraten überraschen mich immer wieder. Und bis ins letzte Detail vorbereitet kann man auf solche Situationen gar nicht sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!