Berliner Piratenpartei: Neuer Kapitän mit Bart
Ein Parteitag mit großen Überraschungen: Die Berliner Piraten haben einen neuen Landeschef gewählt. Längst nicht alle sind davon begeistert.
BERLIN taz | Schon die Begrüßung macht klar, dass das hier anders wird. Da tritt am Samstagmorgen Piraten-Landeschef Gerhard Anger auf die Bühne, ein Mittdreißiger mit grauem Kapuzenpullover, und erklärt, er habe am Freitagmorgen entschieden, doch nicht mehr für den Vorsitz anzutreten. Er halte dem Druck "emotional" nicht mehr Stand. Ein Raunen, dann stehender Applaus. Anger zieht sich auf ein Bier an die Bar zurück.
Und es wird so weitergehen an diesem Samstag und Sonntag in der Universal Hall in Moabit. Es ist der erste Parteitag der Berliner Piraten, nachdem sich im Herbst alles für die Partei änderte. Einzug ins Abgeordnetenhaus, ein Sprung von 800 auf 2.700 Mitglieder.
Gut 300 von ihnen sitzen nun an Biertischen, eng an eng. Viele Männer mit langen Haaren und weiten Shirts, und, doch, auch einige Frauen. Auf den Laptops flimmert Twitter, daneben reihen sich Club Mate-Flaschen. Es gibt Schmalzstullen, bei Abstimmungen läuft im Hintergrund die Tetris-Melodie. Es beginnt beinah routiniert: Fast einstimmig wird beschlossen, den Vorstand weiter alle ein statt zwei Jahre zu wählen.
Mit den Jusos "gezeltet und gesoffen"
Auch für den neuen Landesvorsitz scheint die Sache nach Angers Rückzug ausgemacht: Schatzmeisterin Katja Dathe, rot-gepunktete Bluse, große Brille, wird's. Bis spontan noch drei Kandidaten antreten. Fast zwei Stunden lang wollen die Mitglieder wissen, wofür die da vorne stehen. Andersparteiliche Vergangenheit? Er habe mal mit den Jusos "gezeltet und gesoffen", erzählt Malte Kaffenberger, Kreuzberger Jüngling mit Hut. Wichtig sei, sagt Lasse Kosiol, Spandauer Student, dass man "keinen Schwachsinn" erzähle. Kandidat Hartmut Semken gesteht, dass er 2010 an den Piraten "verzweifelt" und fast ausgetreten sei. Und Dathe kündigt an, "weiter unglaublich faul zu sein", um nicht "auszubrennen".
Am Ende gewinnt der, der am wenigsten nach Pirat aussieht: Hartmut Semken, weißes Hemd, akkurater Bart. Ein 45-jähriger Ingenieur, den sie hier nur "Hase" nennen. Er erhält 53,3 Prozent. Favoritin Dathe folgt mit 44 Prozent. Mitglieder hatten ihre intransparente Ernennung zur Piraten-Wahlfrau für die Bundespräsidentenwahl kritisiert. Sieger Semken nennt das Ergebnis "absolut surreal". Er wolle am zurückgenommenen, moderierenden Stil des Vorstands festhalten. Seine Partei lobt Semken als "Ein-Themen-Partei" der "individuellen Freiheit", als "Volkspartei im Wartestand", wegen der wachsenden Zahl an Internetnutzern. Dann stößt er mit Rum an.
Bei einigen Altmitgliedern kippt dagegen die Stimmung. Mit Anger und Dathe sind plötzlich zwei Parteistrategen und Wahlkampforganisatoren ausgeschieden. Die Kommunikation zwischen Vorstand und Fraktion werde nun nicht einfacher, bemerkt ein langjähriger Pirat.
Viele neue Gesichter
Dass die Herbsteuphorie den Alltagsmühen weicht, zeigt auch ein Parteiausschlussverfahren, das immer wieder zum Thema wird. Pirat Sebastian Jabbusch hatte einem jugendlichen Mitglied öffentlich Nötigung und Datendiebstahl vorgeworfen. Der Vorstand sah das als parteischädigend an. "Haltlos" nennt Jabbusch die Vorwürfe am Rande des Parteitags. Bisher-Chef Anger gesteht, dass die Querelen mitursächlich für seinen Abtritt seien. "Vielleicht braucht der Vorstand Leute, die aus härterem Holz gestrickt sind."
Dann betritt der Neu-Abgeordnete Christopher Lauer die Bühne. Der 27-Jährige, wie immer im Jackett, staunt über die "vielen neuen Gesichter". Die Fraktionäre bekommen wohlwollenden Applaus. Das Abgeordnetenhaus sei "kein Hexenwerk", versichert Lauer. "Wenn man sieht, was da passiert, wundere ich mich, dass Berlin überhaupt noch funktioniert." Der Saal lacht. Jetzt stimmt die Stimmung wieder.
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