Galerie Nord in Berlin-Mitte: Vor dem Nichts
Nach 21 Jahren verliert der Kunstverein Tiergarten seine Räume. Statt auf langfristige Arbeit wird in den kommunalen Galerien auf kurzfristige Projekte gesetzt.
„Macht macht Macht verrückt“ steht auf einem großen Plakat an der Fassade des Brüder-Grimm-Hauses in Moabit. Anna, Charlotta, Emilia, Freya, Kaya, Rosa, Selma, Tabea, Vincent und Claire, Schüler:innen von der Hansa-Grundschule, haben im Rahmen des Projektes „Akte K: Das Kriterium“ Plakate entworfen, die sich mit Themen wie „Unrecht“, „Du entscheidest“, „Anderssein“ und „Macht“ auseinandersetzen.
Ende November gingen die Kinder mit ihren selbst gestalteten Plakaten an die Öffentlichkeit und trugen sie in einer Prozession durch die Straßen Moabits. Endpunkt war die Galerie Nord im Brüder-Grimm-Haus. Seit sechs Jahren verbindet die Hansa-Grundschule mit dem Kunstverein Tiergarten, der die Galerie Nord betreibt, eine enge Kooperation.
Barbara Frieß, Kulturbeauftragte der Schule, zählt über 25 Kunstprojekte auf, die in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Tiergarten und verschiedenen KünstlerInnen in der Galerie realisiert wurden. Doch bis auf Weiteres ist „Akte K: Das Kriterium“ das letzte Projekt, das die Hansa-Schule in der Galerie Nord realisieren kann.
Der Kunstverein Tiergarten muss die Räume, die sich in kommunaler Trägerschaft befinden, zum Jahresende verlassen. Der Verein wurde 2004 in enger Absprache mit dem Bezirksamt Berlin-Mitte gegründet. Die gemeinsame Idee war, die Galerie Nord mit einem Verein aus engagierten AnwohnerInnen zu betreiben, um so ein sichtbares Zeichen zu setzen gegen die Schließung vonkommunalen Galerien.
1.300 Künstler:innen in 20 Jahren
Das Bezirksamt beauftragte die künstlerische Leitung. Veronika Witte, seit 2017 Programmverantwortliche, entwickelte 2018 die Reihe „Grenzgängerinnen“, die spartenübergreifend arbeitende Künstlerinnen vorstellte. 2024, zum 20-jährigen Bestehen des Kunstvereins Tiergarten, stemmte sie zusammen mit Ulrike Riebel und Julia Heunemann, den Vorstandsvorsitzenden des Vereins, die Jubiläumsausstellung RE:VISION, die die über 1.300 KünstlerInnen, die in zwei Jahrzehnten in den Galerieräumen ausgestellt hatten, in einer Rauminstallation zusammenführte.
Barbara Frieß, Hansa-Schule
Julia Heunemann sitzt vor einem der großen Fenster, die den Blick freigeben auf die Turmstraße und ihren nie stockenden Menschenfluss. Und die gleichzeitig eine Einladung sind, nach drinnen zu schauen auf die Kunst. Die vorerst letzte Ausstellung des Kunstvereins entstand in Kooperation mit dem Heritage Art Space in Hanoi. Neben dem Fenster klebt eine großformatige Fotografie eines Mehrfamilienhauses in Vietnam, daneben steht eine verspielte Miniaturausgabe des Gebäudes mit prägnanten Infos zu seinen BewohnerInnen.
„Formal ist die Entscheidung des Bezirksamts Mitte, die Räume neuauszuschreiben, nicht zu beanstanden“, sagt Heunemann. Aber sie findet: „Das Bezirksamt Mitte hätte die legal vorhandenen Ermessensspielräume nutzen können, um die Projektförderung zu verlängern. Das wurde nicht in Betracht gezogen.“
Der Kunstverein Tiergarten kooperierte neben der Hansa-Schule mitweiteren Moabiter Schulen und der VHS Mitte. Barbara Frieß von der Hansa-Schule erzählt von dem Vertrauen, das sich in den vergangenen Jahren zwischen Schule und Kunstverein entwickelt hat. „So eine Partnerschaft entsteht nicht von heute auf morgen. Das braucht Zeit“, sagt Frieß.
Lücke im Schulleben
Dass der Kunstverein Tiergarten die Galerie Nord nicht weiter betreiben kann und die dortigen Workshops künftig wegfallen, in denen die Kinder mit zeitgenössischer Kunst und KünstlerInnen in Kontakt kommen, reiße „eine Riesenlücke in unser Schulleben“, konstatiert Frieß.
Der Kunstverein Tiergarten hatte sich noch an der Ausschreibung der Galerieräume beteiligt. Doch schließlich gewann der Vereinparallelgesellschaft e. V. den Wettbewerb, ein KünstlerInnenkollektiv, bekannt durch die gleichnamige Lesebühne in Neukölln. In Moabit war das Kollektiv bislang nicht aktiv. Es übernimmt mit einem Zehnmonatsvertrag den größeren Teil der Räume. Für den zweiten, kleineren Teil, seit Kurzem gelabelt als „Galerie Nord / Studio“, sucht das Bezirksamt vier Ausstellungsprojekte für das nächste Jahr und hat dazu einen Open Call ausgeschrieben.
Schaut man sich die Struktur der übrigen kommunalen Galerien in Mitte genauer an, fällt auf, dass die künstlerische Leitung seit Jahren nur noch auf Honorarbasis, in der Regel auf ein Jahr befristet, ausgeschrieben wird. Nicht nur in der Galerie Nord, auch in der Galerie Wedding, der Klosterruine und dem Kunst Raum Mitte kündigen sich signifikante Umstrukturierungen an. So favorisiert der Fachbereich Kunst, Kultur und Geschichte an allen vier Standorten kurzfristige kuratorische Projekte.
Dass es auch anders geht, sieht man im Bezirk Spandau. Dort wurden in den letzten Jahren in den kommunalen Galerien KuratorInnenstellen in Festanstellung geschaffen. Vergleicht man die Zuwendungen an den Kunstverein Tiergarten und diekünstlerische Leitung der Galerie Nord (über Honorarvertrag) in diesem Jahr mit den ausgeschriebenen Summen für die Galerie Nord und Galerie Nord /Studio 2026 (zusammen 90.000 Euro), dann sind das circa 30.000 Euro Mehrkosten im nächsten Jahr.
Wie ist diese Ausgabensteigerung vor dem Hintergrund der massiven Kulturkürzungen im Doppelhaushalt 2026/27 zu verstehen? In einer Presseerklärung verkündete Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger (Grüne): „Die Galerie Nord soll zu einem offenen Begegnungsraum werden, der Kunst, Stadtgesellschaft und Kiez gleichermaßen einbezieht.“ Genau so einen Raum hatte der Kunstverein Tiergarten in der Galerie Nord längst geschaffen.
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