Vor dem Gruppenfinale der Ukraine: Ohne Generator kein Tor
Spiele der Ukraine in der Kneipe zu verfolgen, ist in Kyjiw alles andere als einfach. Auch wegen der Auftaktpleite ist die Stimmung eher mau.
Wer die Spiele der Europameisterschaft in der Ukraine nicht zu Hause oder auf dem Handy schauen will, sondern in Gesellschaft, muss bisweilen eine Art Schnitzeljagd absolvieren. Public Viewing wie bei vorangegangenen Turnieren gibt es wegen der Gefahr durch Luftangriffe nicht. Das Zentrum von Kyjiw bietet zwar reichlich Bars, die das ganze Jahr über Fußball zeigen. Doch die Stromsperren machen ihnen zu schaffen. Seit Russland im Frühjahr mit mehreren Raketenangriffen rund die Hälfte der ukrainischen Stromerzeugung zerstört hat, gibt es täglich mehr oder weniger geplante Blackouts.
Vor dem zweiten Gruppenspiel steht am Nachmittag eine Gruppe Zigarette rauchender Männer vor dem Eingang vom Pivna Duma (Bier Haus) und starrt auf ihre Smartphones. Die Lokale der Kette bieten neben dem namensgebenden Getränk auch allerlei Gegrilltes und zahlreiche Flachbildschirme. Eigentlich eine sichere Sache für Fußballfans. Doch Kellnerin Wika schüttelt den Kopf. Das Wifi sei kaputt und alle Bildschirme ausgefallen.
Ein paar Straßen weiter haben sich neben Einheimischen auch viele englischsprachige Gäste im O’Brians Pub versammelt. Alle Tische sind besetzt, nur am Tresen finden sich ein paar freie Hocker. Doch der Mann am Zapfhahn warnt: „Zur zweiten Hälfte beginnt die nächste Stromsperre.“ Und einen Generator habe man nicht. Die Halbzeit reicht gerade aus, um das Lokal zu wechseln. Der Sunduk Pub hat nicht nur Weißbier, sondern auch Strom und freie Plätze im Hinterzimmer.
Kaum Zeit für Fußball
Am Ende gewinnt die Ukraine das Spiel gegen die Slowakei noch mit 2:1. Roman Jaremtschuk hatte kurz vor Schluss einen langen Pass von Schaparenko in vollem Lauf gefühlvoll angenommen und am slowakischen Torhüter vorbeigeschoben. Nach einer starken zweiten Hälfte ein durchaus gerechtes Ergebnis. Doch der Jubel fällt kurz aus. Die meisten Gäste zahlen rasch ihre Rechnungen und verschwinden.
Fußballfan Vasja erzählt, dass er früher immer zu den Heimspielen von Dynamo Kyjiw gegangen sei. Aber der Krieg überschatte eben alles. „Entweder arbeite ich oder leiste humanitäre Hilfe.“ Da bleibe nicht viel Zeit. Bei der EM versuche er aber wenigstens die Spiele der ukrainischen Mannschaft anzusehen. Glücklicherweise sei das entscheidende dritte Gruppenspiel gegen Belgien am Mittwoch für 19 Uhr Ortszeit angesetzt. Die späten Spiele enden zu nah an der Ausgangssperre, dass man nicht mehr nach Hause käme. Die meisten Lokale zeigen, wenn überhaupt, nur die erste Halbzeit.
Dass keine Euphorie aufkommt, liegt allerdings auch am enttäuschenden Ergebnis des ersten Gruppenspiels gegen Rumänien. 0:3 unterlag die ukrainische Auswahl der Mannschaft des Nachbarlandes in München. Dabei war man streckenweise feldüberlegen. Doch aus dem Ballbesitz sprang nichts Zählbares heraus. Bei den Rumänen saß hingegen jeder Schuss. Zumal auch Torhüter Andrij Lunin von Real Madrid keine gute Figur machte und folglich im zweiten Gruppenspiel für Anatolij Trubin weichen musste. Nach dem Rückstand kam kein Aufbäumen.
Auf dem Papier ist diese Auswahl wahrscheinlich die beste, die die Ukraine jemals zu einem Turnier geschickt hat. Zahlreiche Spieler stehen bei europäischen Topklubs unter Vertrag: Da ist Oleksandr Sintschenko vom FC Arsenal. Artem Dowbyk vom spanischen Ligadritten Girona ist dort Torschützenkönig geworden. Und der schnelle Flügelstürmer Mychajlo Mudryk gilt als kommender Star und war vor einem Jahr für 100 Millionen Euro Ablösesumme zum FC Chelsea gewechselt. Dazu kommt noch eine Handvoll Spieler von Shachtar Donezk mit reichlich Erfahrung in der Champions League.
Menschen in Fußballtrikots sieht man vergleichsweise selten auf den Straßen der Hauptstadt. Nur an den Rolltreppen der U-Bahn hängen Plakate mit Porträtfotos der Nationalspieler und dem Slogan „Du kannst es“. Ob es die Ukraine auch gegen Belgien kann, ist sich Vasja nicht sicher. „Die sind schon sehr gut und brauchen auch einen Sieg“, sagt er über den Gegner. Aber auch die Ukraine sei immer für eine Überraschung gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs