Vor 30 Jahren: Kriegsrecht in Polen: "Wir lassen uns nicht plattmachen"
Als 1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, war Piotr Niemiec grade in Warschau. Dem Berliner und Studenten in Lodz waren DDR und Polen gleichermaßen vertraut.
taz: Herr Niemiec, Sie sind gebürtiger Berliner. Aber als in Polen am 13. Dezember 1981 der Kriegszustand verhängt wurde, waren Sie gerade vor Ort.
Piotr Niemiec: Ich bin in Ostberlin geboren, habe aber seit 1977 an der Uni in Lodz Filmwissenschaft studiert. Ich bin deshalb zwischen meiner Wohnung in Berlin und Lodz gependelt.
Wie haben Sie vom Kriegsrecht erfahren?
An diesem Wochenende war ich bei meiner Mutter in Warschau. Sie hat mich am Sonntagmorgen mit Tränen in den Augen und den Worten geweckt: Es ist Krieg. Auf den Straßen fuhren Panzer auf.
Wie hat Ihre Mutter reagiert?
Geboren 1952 in Berlin, 1970-1974 Studium der Biochemie in Halle (Saale), 1977-1983 Studium der Filmwissenschaft in Lodz, 1984 bis 1988 Filmreferent im Polnischen Kulturzentrum in Ostberlin, seitdem freischaffend.
Sie hat gesagt: Ich habe den Krieg schon mal erlebt und weiß, was das bedeutet. Meine Mutter war 1943 von den Deutschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden. Erst 1973, da war ich schon 21 Jahre alt, ist sie wieder nach Polen zurückgekehrt. An jenem 13. Dezember 1981 haben wir versucht, im Radio zu erfahren, was genau los ist. Ich hatte ja meinen Wohnsitz in Berlin und wusste gar nicht, ob ich noch irgendwie zurückfahren konnte. Normalerweise wäre ich am Montag wieder nach Lodz zum Studieren gefahren. Aber Weihnachten wollte ich mit meiner Freundin und Freunden in Berlin verbringen.
Was haben Sie gemacht?
Ich bin zum Bahnhof Warszawa Centralna gefahren, um herauszufinden, ob überhaupt noch Züge fahren. Man hat mir gesagt, dass es keine Züge mehr ins Ausland gibt, es also erst mal unmöglich ist, aus Polen rauszukommen. Und ein Offizier sagte: Als polnischer Patriot müsse ich nach Hause und alles Weitere am Radio verfolgen. Ich bin dann abends zurück nach Lodz und habe mit meinen Kommilitonen im Fernsehen die Ansprache von General Jaruzelski gehört.
Am 13. Dezember 1981 verhängte Polens Parteichef General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht über sein Land. Gleichzeitig übernahmen die Generäle die Macht in der Volksrepublik. Wichtige Einrichtungen wie der Rundfunk wurden von den Militärs besetzt.
Mit dem Kriegsrecht begann auch eine bis dahin nicht gekannte Verhaftungswelle. Bereits in der Nacht auf den 13. Dezember wurden 3.000 Personen interniert. Die meisten von ihnen gehörten der Opposition und der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc an. Aber auch ehemalige Funktionäre wie Parteichef Edward Gierek wurden verhaftet.
Mit dem Kriegsrecht endete auch die legale Zeit der Solidarnosc. Die Gewerkschaft, der zeitweise 10 Millionen Polen angehörten, war im August 1980 nach langen Streiks auf der Danziger Leninwerft zugelassen worden.
Bis heute behauptet Jaruzelski, er sei mit der Verhängung des Kriegsrechts einem Einmarsch der Sowjetunion in Polen zuvorgekommen. Der Prozess gegen den 88-Jährigen wegen "kommunistischer Verbrechen" begann 2006 und dauert bis heute an.
Die Verhängung des Kriegsrechts führte in der Bundesrepublik zu einer großen Welle der Solidarität. Zahlreiche Pakete wurden nach Polen geschickt, um die Versorgungslage zu verbessern. Das Kriegsrecht wurde 1983 wieder aufgehoben.
Mit Tadeusz Mazowiecki bekam Polen am 25. August 1989 den ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten im damaligen Ostblock. Bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1990 siegte der Gewerkschaftsführer Lech Walesa. Er war es auch, der die Solidarnosc bei den Streiks in Danzig anführte. Während der Zeit des Kriegsrechts war Walesa interniert, noch bis 1987 stand er unter Hausarrest. 1983 bekam er den Friedensnobelpreis. (wera)
Haben Sie da Näheres erfahren?
Es war eine endlose Aufzählung von Paragrafen, in denen es vor allem darum ging, welche Verhaltensmaßnahmen aus dem Kriegsrecht folgen. Aber auch da war noch nicht klar, gegen wen sich denn nun Polen im Krieg befindet. Meine Sorge war, dass es die Warschauer-Pakt-Staaten wären, Polen also auch die Züge der DDR-Reichsbahn beschlagnahmt und ich nicht mehr nach Berlin komme.
Es war also unklar, ob sich Polen gegen einen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten, inklusive der DDR, wehrt, oder ob es gegen einen Gegner im Innern wie die Solidarnosc geht. Später hat General Jaruzelski gesagt, er habe den Kriegszustand ausgerufen, um einen Einmarsch der UdSSR zu verhindern.
Er war in einer Zwickmühle. Noch im Frühjahr 1981 hatte er bei den Studentenstreiks eine positive Rolle gespielt, dann hat er das Kriegsrecht verhängt. Sie wissen: Polen war immer zwischen Deutschland und Russland zerrieben worden. Wenn die Deutschen, auch die in der DDR, in Polen einmarschiert wären, hätte es ein schlimmes Blutvergießen gegeben. Man hätte sofort an die Erfahrungen des Untergrundes im Zweiten Weltkrieg angeknüpft. Und unter den Polen herrschte die Stimmung: So wie die Tschechen in Prag 1968 lassen wir uns nicht plattmachen. Jaruzelski hatte also die Wahl zwischen Pest und Cholera, er musste lavieren.
Sie kannten sowohl die DDR als auch Polen.
Als Kind hatte ich mich immer als Pole gefühlt, schon wegen meiner Eltern. Das war so romantisch, und ich dachte immer, ich zieh mal zurück ins Land meiner Väter. Als ich dann in Lodz studierte, merkte ich, dass meine Sozialisation, meine Art, zu denken, die Welt zu sortieren, eher deutsch war. Dennoch war Polen damals ein viel freieres Land als zum Beispiel die DDR. Was nach dem 13. Dezember in Polen unter das Kriegsrecht fiel - immer seinen Ausweis dabeihaben müssen zum Beispiel -, war in der DDR schon vorher gang und gäbe. Auch dass Telefonate abgehört wurden. Ich kam also sozusagen von einem Kriegszustand in den anderen. Nur waren in der DDR eben keine Panzer auf den Straßen und es gab keine Ausgangssperre am Abend.
Wie war denn die Zeit vor dem 13. Dezember? Welche Aufbruchstimmung herrschte in Polen nach der Zulassung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc im August 1980? Hielten Sie es überhaupt für möglich, dass das Regime so zurückschlagen konnte?
Mit der Gründung der Solidarnosc hatte die Opposition Oberwasser bekommen - ein Beispiel dafür war auch Wajdas Film "Der Mann aus Eisen", der in Cannes die Goldene Palme bekommen hat. Dann aber gab es auf beiden Seiten eine immer stärkere Radikalisierung.
Wie haben Ihre Freunde in Ostberlin auf Polen geschaut?
Das war paradox. Sie konnten nicht in den Westen fahren, also fuhren sie, um doch in den Westen zu kommen, nach Osten. Viele Filme konnte man nur in Warschau sehen. Es gab die Jazzszene. Selbst Coca-Cola hatte Gierek in den 70er Jahren eingeführt. Für viele Studenten und Intellektuelle in der DDR war Polen ein gutes Land. Den anderen hat man eingetrichtert, dass die Polen keinen ordentlichen Sozialismus hinkriegen und es deshalb in Polen an allem hapert. Wenn es da zum Beispiel kein Fleisch gab, war genau das das erste Argument. Als das Kriegsrecht verhängt wurde, konnte man in der DDR an genau solche Ressentiments anknüpfen.
Die DDR hatte den visumfreien Reiseverkehr schon im Oktober 1980 beendet, aus Angst, die oppositionelle Bewegung könnte auf die DDR überschwappen. Was hat das für Sie als Pendler bedeutet?
Für mich persönlich war das Ende des visumfreien Reiseverkehrs kein Problem. Ich war ja polnischer Staatsbürger. Und wenn ich mit DDR-Freunden nach Polen wollte, um dort frische Luft zu schnappen, habe ich meine Mutter angerufen, dann hatten wir eine Einladung.
Welches Bild hatten Ihre polnischen Kommilitonen von der DDR?
Natürlich habe ich meine Kommilitonen aus Lodz auch nach Ostberlin eingeladen. Als es versorgungsmäßig in Polen nicht so gut war, konnten wir es uns bei mir gut gehen lassen und Bier trinken. Wir haben also die kulturelle Freiheit in Polen genossen und den materiellen Wohlstand in der DDR.
Haben Sie manchmal auch das Leben in der DDR gegen Vorurteile in Polen verteidigen müssen? Dort galten DDR-Bürger nicht selten ja als ideologisch einwandfrei und standfest.
Das Verhältnis war ambivalent. Man verachtete die DDR-Bürger wegen ihres Kuschens. Andererseits bewunderte man auch den materiellen Wohlstand. Ich selbst habe in Lodz nicht mit meinen marxistischen Ansichten hinter dem Berg gehalten. Die polnischen Studenten hielten Marxisten ja generell für Blödmänner oder Verbrecher, und plötzlich hatten sie da einen vor sich, mit dem sie sogar was anfangen konnten. Für manche war ich der erste vernünftige Marxist in ihrem Leben.
Wie war Ihr Alltag in der DDR? Haben die Behörden auf die Auslandspolen ein besonders scharfes Auge gehabt?
Oberflächlich war mein Status unproblematisch. Allerdings war bereits in den 70er Jahren ein Gesetz erlassen worden, dass man Ausländer ohne Begründung binnen 24 Stunden außer Landes schaffen konnte. Richtig problematisch war es nach der Verhängung des Kriegsrechts. Da gab es den Frank-Beyer-Film "Der Aufenthalt", in dem ein alter Nazi sagt: "Pass auf, der kann Polnisch, das ist verdächtig." Und das war ziemlich exakt die offizielle Stimmung in der DDR nach der Verhängung des Kriegsrechts.
Wie haben Sie das interpretiert?
Wenn du damals Polnisch konntest und auch gesprochen hast, dann galtest du plötzlich als fünfte Kolonne. In den Semesterferien hatte ich mich mal um einen Job bemüht, es war eigentlich alles klar, aber als ich dann das Einstellungsformular ausgefüllt hatte, hieß es plötzlich: "Sie sind Pole. Gehen Sie doch dahin zurück, wo Sie herkommen." Dabei bin ich ja in Berlin geboren. Das mit der Völkerfreundschaft war also oft nur eine dünne Schicht. Ich jedenfalls hatte damals ziemliche Angst, dass da plötzlich einer den Hasshahn aufdreht, und dann bin ich zum Abschuss freigegeben. So wie es heute mit den Türken und den Arabern und dem Generalverdacht des Islamismus ist. Aber natürlich gab es in der DDR auch die Oppositionellen, die die Freiheitsbewegung in Polen unterstützt haben. Ich selbst war da auch mal Kurier. Für Polen zu sein war nach dem Kriegsrecht also auch eine Art politisches Statement.
Als 1989 die Wende kam: Für wen haben Sie sich mehr gefreut, für die DDR-Bürger oder für die Polen?
In Polen hatte sich ja schon vorher viel verändert, die Leute konnten in den Westen reisen, und auch die Meinungsfreiheit war wesentlich größer als in der DDR. Natürlich wurde auch dort der Sicherheitsapparat aufgelöst, aber das habe ich aus der Ferne in der DDR gar nicht mehr so konkret mitbekommen. Die Polen hatten schon lange vorher eine halbe Freiheit. Da war der Schritt zur ganzen nicht mehr ganz so groß. In der DDR war es ein sehr viel größerer Schritt.
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