: Vor- und Nachleben eines Liedes
Erst Bänkellied und Jagdmelodie, dann ideologisches Kampflied für Linke und Rechte. Das sogenannte Horst-Wessel-Lied hat eine verworrene Vorgeschichte. Zur Rekonstruktion eines Nazi-Liedes anläßlich einer groben Peinlichkeit der ARD-Tagesthemen ■ Von Georg Löwisch
„Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen.“ Mit dieser Liedzeile verbinden sich noch immer marschierende SA-Mannschaften, tobende Braunhemden, die nach Reden Hitlers das Deutschlandlied und gleich im Anschluß das Horst-Wessel-Lied mit eben diesem Liedanfang sangen. Manchmal sieht man die Zeile heute noch an Häuserwänden, wo sie Neonazis hingesprüht haben.
Ein Autor der ARD-Tagesthemen hatte keine dieser Assoziationen. In seinem Fernsehbericht beschrieb er die Teilnahme des PDS- Chefs Lothar Bisky an der Beisetzung der Che-Guevara-Gefährtin Tamara Bunke so: „Für ihn war es wohl wie in alten Tagen — die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen.“ Das beschwor den Protest der PDS herauf, worauf Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert den Zuschauern die tiefsinnige Erklärung anbot, der Reporter sei in Ostdeutschland aufgewachsen und habe die Zeilen „in der DDR gelernt als Antifamarsch“. Der zuständige ORB schickte noch eine entsprechende Pressemitteilung hinterher: Die PDS sei im Irrtum und die umstrittene Stelle „aus dem ,Antifamarsch‘, Deutschland 1932“.
Die angestrengten Versuche zur Schadensbegrenzung entlasten nicht von Fragen nach der Geschichte des Liedes. Kann ein Lied ein Doppelleben führen? Eins bei den Linken, eins bei den Rechten? Und dann in der DDR links weiterexistieren, obwohl es vorher eine so zerstörerische Vorgeschichte in ganz Deutschland und darüber hinaus hatte?
Am Anfang war die Melodie – lange vor der Zeit des früh ums Leben gekommenen nationalsozialistischen Schwärmers Horst Wessel und der von den Nazis initiierten Legendenbildung um seine Person. Im Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg finden sich verschiedene Belege der Melodie aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als Komposition des Franzosen Méhul und als Bänkellied, das mit Gitarren- oder Leierkastenbegleitung auf Märkten gesungen wurde. Auch das „Jennerwein-Lied“ über einen bayerischen Wilderer klingt ähnlich. Die Melodie war noch nicht ideologisch belastet.
Das änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg. Deutsche Matrosen dichteten das „Königsberg- Lied“. Den Kreuzer „Königsberg“, den Deutschland im Zuge der Versailler Verträge an die Allierten abgeben mußte, wurde zum „schönsten Schiff im deutschen Flottenkranz“ stilisiert. 1925 drehte Sergej Eisenstein seinen Revolutionsfilm „Panzerkreuzer Potemkin“. Die Arbeiter in Berlin waren begeistert und übernahmen kurzerhand die Melodie des anderen Schiffs-Gesangstücks, um mit dem Panzerkreuzer Signal zu setzen. Somit war dieselbe Melodie in soldatisch-rechtem wie in linksrevolutionärem Gebrauch.
Das Köngisberg-Lied habe auch der Wiking-Bund gesungen, schreibt Hermann Weiß in der dtv- Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Und dessen Mitglied sei eben Horst Wessel gewesen. Barbara Book vom Deutschen Volksliedarchiv vermutet, dem SA- Sturmführer in Berlin-Friedrichshain sei eine Melodie wie gerufen gekommen, die bei Rechten wie Linken beliebt war.
„Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen“: In Goebbels Angriff wurde Wessels Text am 23. September 1929 erstmals veröffentlicht. Als der SA-Mann angeschossen wurde und Goebbels ihn zum großen Märtyrer und Künstler aufbaute, erschien das Lied am 1. März 1930, wenige Tage nach seinem Tod, auf der Titelseite des Völkischen Beobachters. Im selben Jahr wurde es die Parteihymne der NSDAP. Nun wollten die Rechten auch die Melodie für sich allein. Der Propagandaminister führte einen Prozeß mit dem Ziel, die Urheberrechte der Partei und dem von ihr geformten Helden Wessel zuschreiben zu lassen. Doch noch am 2. Dezember 1936 verlor er vor dem Oberlandesgericht Dresden, das auf die beinahe identischen älteren Lieder verwies.
Die Antifaschisten veränderten den Text des Horst-Wessel-Lieds mehrfach, um die Nazis zu verspotten und gleichzeitig die populäre Melodie zu nutzen. Im Freiburger Volksliedarchiv und im Arbeiterliedarchiv in Berlin liegen jede Menge undatierter Variationen. Die bekannteste ist freilich die Persiflage aus Brechts „Kälbermarsch“ von 1943: „Der Metzger ruft. Die Augen fest geschlossen / Das Kalb marschiert mit ruhigem festen Tritt.“
Auch nach dem Krieg wurden Parodien auf das Nazi-Lied gereimt. „Die Preise hoch, die Zonen fest geschlossen/ Die Kalorien sinken Schritt für Schritt/ Es hungern noch diesselben Volksgenossen/ Die andern hungern nur im Geiste mit“, lautet ein Text, veröffentlicht in den Lübecker Nachrichten zu Sylvester 1946.
Für eine antifaschistische Parodie aus der Nazizeit, die mit derselben Zeile beginnt wie das Horst- Wessel-Lied, finden sich in den Archiven keine Belege. Allerdings sagt die frühere Leiterin des Berliner Arbeiterliedarchivs Ingrid Lammer, es habe auch solche Versionen gegeben. Einen einheitlichen „Antifamarsch“ mit identischer Anfangszeile gab es freilich nie. Ganz zu schweigen davon, daß so ein Lied in der DDR gesungen oder sogar gelehrt wurde. Darüber gibt es weder Material in den beiden Archiven, noch ist es wahrscheinlich: „Niemand wäre auf die Idee gekommen“, erklärt Ingrid Lammer. Schon die Melodie verbinde schließlich jeder mit den Nazis.
Es könnte sein, daß sich die ARD noch intensiver mit der Genealogie deutschen Liedguts beschäftigen muß. Mit einer eleganten Überleitung zum Wetter, so scheint's, kommt man in Fragen der Political Correctness nicht immer davon. Inzwischen bezichtigt sich die ORB-Fernsehdirektion in einem Brief an Lothar Bisky selbst der groben Fahrlässigkeit.
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