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Von der Imbißbude zum Dienstleister

35 Jahre nach den ersten „Gastarbeitern“ erwirtschaften 5.000 türkische Unternehmen in Berlin fünf Milliarden Mark Umsatz. Durch die wirtschaftliche Expansion brechen die Ghettos auf  ■ Von Hannes Koch

Die türkische Wirtschaft in Berlin expandiert. Seit 1989 sei die Zahl der Betriebe um rund zehn Prozent pro Jahr gestiegen, schätzt Hüsnü Ozkanli. Der Generalsekretär der Deutsch-Türkischen Unternehmervereinigung Berlin/ Brandenburg weiß von etwa 5.000 Firmen im Besitz von türkischen StaatsbürgerInnen.

Wie andere Berliner Unternehmen auch fanden die türkischen Betriebe nach dem Fall der Mauer neue Betätigungsfelder im Osten. So wurden allein in Ostberlin in den vergangenen sechs Jahren 500 erfolgreiche Betriebsgründungen registriert. Doch auch in die östlichen Bundesländer expandieren die türkischen Firmen. Hüsnü Ozkanli berichtet von der Gründung einer Baufirma in Halle und der Einrichtung von Restaurants in Magdeburg, Dresden und Rostock.

Für diese Ausweitung sind aber auch spezifische Veränderungen der türkischen Lebensweise verantwortlich. Die erste Emigrantengeneration schickte ihr Geld noch überwiegend ins Heimatland. Überschüssiges Kapital wurde beispielsweise verwendet, um Häuser in der Türkei zu bauen. Das hat sich mittlerweile geändert. Viele Familien, besonders der zweiten Generation, sehen jetzt hier ihren Lebensmittelpunkt und investieren deshalb in Berlin. Während früher 50.000 Mark für die Einrichtung eines Schnellimbisses reichen mußten, investieren türkische Gastronomen heute schon mal eine Million Mark. Die rund 20.000 Beschäftigten der Betriebe erwirtschafteten 1995 einen Umsatz von rund 5 Milliarden Mark. Damit ist die türkische Wirtschaft zu einem wichtigen Faktor geworden. Zum Vergleich: Das gesamte Berliner Handwerk setzte im vergangenen Jahr 28 Milliarden Mark um. Im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl weist die türkische Minderheit mittlerweile eine ähnliche Dichte von Gewerbebetrieben auf wie die übrige Wirtschaft.

Wirklich große Unternehmen gibt es allerdings nicht. Die größten Mittelständler beschäftigten knapp 200 Leute. In diese Kategorie gehören eine Fabrik zur Produktion von Dönern und einige Baufirmen. Überhaupt bilden die Bau- und Lebensmittelbranche wesentliche Schwerpunkte der türkischen Geschäftstätigkeit. Größenteils haben die früheren EmigrantInnen hierzulande Dienstleistungsunternehmen gegründet. Die Produktion ist abgesehen von einigen Fleischfabriken, Tischlereien und Druckereien schwach vertreten.

Seit nach dem Bau der Mauer 1961 die ersten türkischen „GastarbeiterInnen“ angeworben wurden, hat sich das Spektrum des Gewerbes immer mehr aufgefächert. Am Anfang gab es vor allem Im- und Exportläden sowie Reisebüros. Auch die Dolmetscherbüros florierten damals, denn die Sprachkenntnisse waren auf beiden Seiten dünn gesät. Dann kam die Lebensmittelbranche mit ihren Imbißbuden, kleinen Läden und später auch Supermärkten. Bis heute hat sich der Dienstleistungssektor zur vollen Vielfalt entwickelt. Das Branchenbuch türkischer Unternehmen bietet alles – vom islamischen Beerdigungsinstitut bis zur Softwareentwicklung.

Mit der wirtschaftlichen Expansion nahm die früher vorhandene Selbstgenügsamkeit ab; türkisches Leben und das anderer Nationalitäten durchdringen sich einander, die Ghettos brechen auf. Selbstverständlich, so erklärt Firmenfunktionär Ozkanli, könnten türkische Apotheken und Optiker nicht nur von ihren Landsleuten leben. Man sei auch auf andere Kunden angewiesen. Im übrigen stellen türkische Unternehmer vermehrt deutsches Personal ein. Denn man kann immer weniger auf die mitarbeitenden Familienangehörigen bauen. Während früher Kind und Kegel im Gemüseladen angelernt wurden, sind etwa für Computergeschäfte speziell ausgebildete Leute nötig, die man auf dem Arbeitsmarkt rekrutieren muß.

Durchmischung der Nationalitäten ist auch festzustellen, weil sich in der türkischen Gemeinde Arbeits- und Wohnort zunehmend voneinander trennen. Wer zu Geld gekommen ist, will „ein Haus kaufen – aber nicht in Kreuzberg“, weiß Hüsnü Ozkanli, der in seiner Versicherungsagentur gleichzeitig Immobilien vermittelt. Bevorzugte Stadtteile seien heutzutage Schöneberg, Tempelhof, Reinickendorf oder auch Spandau.

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