: Von den Grenzen der Heilbarkeit
■ In ihrem Dokumentarfilm „Michaelas letzte Chance“ erzählt Marianne Strauch die Geschichte eines dramatischen Therapieversuchs in Bremen. Premiere heute im Kino 46
„Austherapiert“ ist eine schreckliche Fachvokabel, die man im Lauf dieses 45 Minuten langen Dokumentarfilms lernen muss. Austherapiert sind die hoffnungslosen Fälle: Die, an denen sich schon so viele FachärztInnen, PsychologInnen, PsychiaterInnen oder BehindertenpädagogInnen versucht haben, dass man sie schließlich für unheilbar erklärt.
Die 17-jährige Michaela gilt als austherapiert. Sie schlägt unkontrolliert um sich, verletzt sich selbst und andere, scheint völlig in ihrer eigenen Psyche gefangen zu sein und wurde im Laufe ihrer lebenslangen Krankheitsgeschichte mal als geistig behindert, mal als autistisch und dann wieder als schizophren diagnostiziert. Mit Medikamenten „ruhig gestellt“ (noch so ein Wort) lebte sie von den anderen Menschen weitestgehend isoliert in einer Behinderteneinrichtung, bis der Bremer Behindertenpädagoge Professor Georg Feuser sie für eine vier Wochen dauernde Intensivtherapie auswählte. Feuser hat sich auf solche als hoffnungslos geltenden Fälle spezialisiert. Seine Therapie ist zwar durchaus umstritten, aber er kann auf eine beeindruckende Reihe von Erfolgen mit AutistInnen verweisen.
Diesen Versuch einer Heilung, die wohl tatsächlich „Michaelas letzte Chance“ ist, hat die junge Dokumentarfilmerin Marianne Strauch in einem betont nüchtern gehaltenen „Protokoll einer dramatischen Therapie“ in einer Produktion von Radio Bremen festgehalten. Mit 50 StudentInnen und einem riesigen Aufwand an Material (mehreren speziell eingerichtetenRäumen, Einwegspiegeln und ganztägiger Videoüberwachung) versuchte Feuser, der Dämonen Herr zu werden, die Michaela beherrschen.
Dabei sieht man schon am blauen Auge, das Michaela Feuser gleich an einem der ersten Tage verpasst, mit welchem Körpereinsatz hier therapiert wird. Oft wird Michaela mit körperlichem Einsatz zu Bewegungen gezwungen, und solche Szenen, in denen sie sehr intensiv ihren Widerstand zeigt, wirken zwiespältig, und Marianne Strauch ist so klug, solche Spannungen in ihrem Film zuzulassen.
Oft wurde jeder Arm und jedes Bein Michaelas jeweils von einem Menschen gehalten: Wenn sie sich im Raum bewegte, hingen dann mindestens noch vier StudentenInnen an dem Mädchen. Das ist ein absurder Anblick, an den man sich aber im Lauf des Films ganz schnell gewöhnt, denn dadurch, dass jeder einzelne Therapieschritt sehr kompakt und anschaulich vor der Kamera erklärt wird, driftet der Film nie ins voyeuristisch-exotische ab.
Verblüffend ist, als wie hellsichtig Michaela sich oft entpuppt. Ihre meist eher ausgestoßenen als gesprochenen Sätze werden zwar erst durch Untertitel verständlich, aber aus ihnen wird deutlich, dass sie durchaus weiß, wo sie ist und was mit ihr geschieht. So wird man zunehmend in das Rätsel von Michaela hineingezogen und merkt gleichzeitig, dass es auch mit diesem immensen Aufwand nicht gelöst werden kann.
Aber im Film sieht man die kleinen Fortschritte, die Michaela dann doch in diesen vier Wochen macht, und man spürt, mit welchem Einsatz sich Feuser und sein Team um ihre Heilung bemühten. Im Abspann steht hinter dem Titel ein Fragezeichen – ein passendes Schlusszeichen für einen Film, der keine falsche Hoffnungen macht. Strauch kaut dem Publikum ein sehr komplexes und existenzielles Problem nicht vor, sondern beschreibt es sensibel, wahrhaftig und ohne Misstöne.
Wilfried Hippen
„Michaelas letzte Chance“ hat heute, Montag, um 20.30 Uhr im Kino 46 Premiere und wird am Dienstag (20.30 Uhr) und Donnerstag (19 Uhr) noch einmal gezeigt. Bei allen Vorstellungen stehen die Regisseurin, Georg Feuser und einige StudentInnen des Therapieteams für Diskussionen zur Verfügung.
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