Von Jorge Luis Borges' Verschwinden

Die Wirklichkeit war ihm viel zu real und zu banal: Heute wäre der große argentinische Autor Jorge Luis Borges hundert Jahre alt geworden. Den Stoff für seine Bücher fand er nicht nur in den Bibliotheken. Borges war auch ein begeisterter Kinogänger  ■   Von Cristina Nord

„Dem anderen, Borges, passiert immer alles“, schreibt Jorge Luis Borges in dem kurzen Prosastück „Borges und ich“. „Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden; ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, dass ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandes Eigentum mehr ist, auch nicht des anderen Eigentum, sondern der Sprache oder der Tradition angehört.“ Konsequent und kokett zugleich schließt „Borges und ich“ mit der Bemerkung: „Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden diese Seite schreibt.“

So verspielt Borges' „Ich war's nicht, Borges ist's gewesen“ auch scheinen mag: Es weist doch den Weg zum Kern des Dilemmas, mit dem sich auseinanderzusetzen hat, wer über den argentinischen Autor schreiben will. Die herkömmliche biografische Unternehmung – der Rückschluss vom Leben auf das Werk und umgekehrt – stößt bei ihm rasch an ihre Grenzen. Denn der in zeitgenössischer Literaturtheorie längst zum Gemeinplatz gewordene „Tod des Autors“, ist bei Borges schon in seiner ganzen Radikalität erprobt worden.

Der heute vor hundert Jahren in Buenos Aires geborene, 1986 in Genf verstorbene Autor liebte das Verwirrspiel, liebte die sanfte Ironie, das Paradox und die Logik, die sich selbst ad absurdum führt. Und vor allem liebte er es, seine eigenen Texte aus bereits vorhandenen Texten zu speisen. Trotz eines Augenleidens, das ihn in den 50er Jahren erblinden ließ, war er ein begeisterter Leser, der sich in späten Jahren ausgiebig vorlesen ließ. So war er ausgestattet mit einem Gespür für die Kostbarkeiten, die der Kanon übersieht.

Nicht zufällig spielen Bibliotheken in vielen seiner Geschichten die Hauptrolle, nicht zufällig handelt eines seiner bekanntesten Prosastücke, „Pierre Menard, Autor des Quijote“, von dem Versuch eines französischen Dichters, Cervantes' „Don Quijote“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein zweites Mal zu verfassen – und zwar wortgetreu der Vorlage folgend. Der Erzähler, ein Literaturkritiker, sichtet die entsprechenden Fragmente und kommt zu dem Fazit, dass die Kopie subtiler ausfalle als das Original. Wenn man auf 2.700 Jahre Literatur- und Geistesgeschichte zurückblickt, stellt der Wunsch Neues zu schreiben ein quasi unmögliches Unterfangen dar. Borges machte aus dieser Not eine Tugend, so dass seine Texte auch heute, da seit ihrer Niederschrift zum Teil mehr als ein halbes Jahrhundert verstrichen ist, durch Scharfsinn und Witz glänzen.

Wer aber ist Borges – oder besser: Bietet seine Person irgendeinen verlässlichen Aufschluss über sein Werk, das doch eine Fundgrube echter und erdachter Zitate ist, das mit geheimnisvollen chinesischen Enzyklopädien aufwartet oder mit Marc Aurel, mit Zenons Paradoxen oder einem Antiquar namens Joseph Cartaphilus?

In jedem Fall kommt aus Borges' Feder eine unpersönliche Literatur, frei von Sentiment und folkloristischem Überschuss, reich an Denksportaufgaben und arm an Identifikationsflächen. Informationen über seine Lebensumstände tragen daher zum Verständnis der Texte nur äußerst wenig bei. Dennoch versuchen sich Biografen immer wieder an dem schwierigen Unterfangen, die Vita des argentinischen Schriftstellers auszuleuchten.

Jüngstes Beispiel hierfür ist die jetzt bei Propyläen erschienene Biografie des englischen, in Berlin ansässigen Autors James Woodall. „Jorge Luis Borges. Der Mann im Spiegel seiner Bücher“, im Original vor drei Jahren veröffentlicht, illustriert trefflich das Dilemma, in dem sich jeder Borges-Biograf bewegt. „Jorge Luis Borges hinterlässt eines der großen literarischen Erbe des zwanzigsten Jahrhunderts“, resümiert Woodall. „Im Leben war er weder ein Held noch ein Kämpfer; er war ein schüchterner und in vielen Dingen konventioneller Mann.“

So weit, so richtig. Doch natürlich kommt der Biograf nicht umhin, Borges' unspektakuläre Vita mit Leben zu füllen. Das ist immer dann interessant, wenn es um die intellektuellen Freundschaften des Argentiniers geht, um den Zirkel rund um die von Victoria Ocampo herausgegebene Zeitschrift Sur zum Beispiel oder um die äußerst produktive Beziehung zu Adolfo Bioy Casares, der diverse Drehbücher und Kriminalgeschichten entsprangen. Interessant ist auch zu verfolgen, wie Borges in seinem politischen Urteil bald hellsichtig, bald töricht war.

Woodall kontrastiert die reaktionären Ausfälle – ein Orden aus den Händen Pinochets, Lob für das 1976 qua Putsch an die Macht gekommene Militärregime – mit dem entschieden vorgetragenen Antitotalitarismus, den Borges sowohl gegen Hitler als auch gegen den argentinischen Potentaten Juan Domingo Perón in Stellung brachte. Letzteres kostete den Autor seinen Brotberuf; 1946, als Perón die Regierungsgeschäfte übernahm, verlor Borges seine Anstellung in einer Vorortbibliothek. Man bot ihm stattdessen den Posten eines Geflügelinspektors an, Borges lehnte ab. Neun Jahre später, als Perón aus dem Amt geputscht wurde, avancierte er direkt zum Leiter der argentinischen Nationalbibliothek.

Eher uninteressant sind Woodalls Ausführungen über den Privatmenschen Borges. Welcher Art seine Beziehung zu Frauen waren, mag zwar das eine oder andere pikante Detail abwerfen, rückt aber vom Autor so weit ab wie die im vergangenen Jahr unter dem Titel „Borges im Gegenlicht“ erschienenen Memoiren der Estela Canto, einer Freundin aus den vierziger Jahren, in die Borges glücklos verliebt war.

Woodalls Fazit, nicht in der Biografie selbst, sondern in einer Aufsatzsammlung abgedruckt, lautet denn auch: „Borges heißt Lesen.“ Mit anderen Worten: Was an dem argentinischen Autor besticht, das sind die Fiktionen, die fantastischen und zugleich so plausiblen Welten, die seine Literatur eröffnet. Um das zu merken, hätte es keiner Information über die freudlose Ehe mit Elsa Astete Millán oder über Koitusschwierigkeiten bedurft.

Abgedruckt ist Woodalls Aufsatz in einem Sonderheft des bei Rowohlt erscheinenden Literaturmagazins: „Borges im Kino“, herausgegeben von dem Berliner Publizisten Hanns Zischler, verdient besondere Aufmerksamkeit. Denn dieser Band ist eine der wenigen aktuellen Neuerscheinungen zu Borges' hunderstem Geburtstag, die das Bild des Autors um bislang nur wenig bekannte Facetten erweitern können. Höhepunkt des Magazins sind die hier abgedruckten Filmkritiken, die Borges zwischen 1929 und 1945 verfasste. Der, den man gemeinhin als überaus belesenen Denker, als versierten Kenner ostasiatischer, altenglischer oder griechischer Quellen schätzt, präsentiert sich darin als begeisterter Kinogänger. Während andere noch jahrzehntelang das Hohe und das Triviale akribisch voneinander scheiden sollten, zeigte sich Borges offen für die junge, populäre Kunst. Dies galt besonders für das Genrekino, für den Western, dessen epische Dimension ihn begeisterte. Treffend erkannte er im Kino, im Antlitz Greta Garbos ebenso wie in der Zeichentrickfigur „Krazy Kat“, Fragmente einer „Mythologie unserer Zeit“.

Trotz seiner grundlegenden Begeisterung urteilte er harsch, wo immer er es für angemessen hielt. Über Merian C. Coopers „King Kong“ (1932/33) schrieb er lapidar: „Ein Affe von vierzehn Metern Größe (Enthusiasten sprechen von fünfzehn Metern) ist ganz offenkundig ein gewaltiger Spaß, aber vielleicht nicht gewaltig genug.“ Und Charlie Chaplins „City Lights“ aus dem Jahre 1930 hielt er für „eine matte Aneinanderreihung von kleinen Abenteuern, die einer rührseligen Geschichte übergestülpt wurden“. Der „Realitätsmangel“ dieses schlechten Films sei „nur mit seinem nicht minder trostlosen Mangel an Irrealität vergleichbar“.

Das Verdikt weist den Weg zu Borges' poetologischem Kern. Wenn es in einer der Rezensionen heißt, der Regisseur des betreffenden Films habe „eine vollkommen irreale Welt geschaffen, eine Welt, in der alles Fiktion ist“, dann deutet sich an, was Bücher wie „Das Aleph“, „Fiktionen“ oder „Universalgeschichte der Niedertracht“ auszeichnet. Sie erschaffen diese „vollkommen irreale Welt“, diese kühle, ironische, Schrecken erregende Welt, deren Logik unausweichlich ist und zum Lachen verleitet – zu einem Lachen, das, wie Michel Foucault einmal über eine Geschichte von Borges bemerkte, „alle Vertrautheiten unseres Denkens aufrüttelt“ und die Maßstäbe „des Denkens unserer Zeit und unseres Raumes“ durcheinander wirbelt.

Jorge Luis Borges: „Der Geschmack eines Apfels“. Gedichte, ausgewählt v. Raoul Schrott. Hanser, 1999, 140 S., 26 DM „Der Essays erster Teil“. Hrsg. v. Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Hanser, 1999., 324 S., 45 DM James Woodall: „Jorge Luis Borges. Der Mann im Spiegel seiner Bücher“. Propyläen Taschenbuch, 1999, 362 S., 29,80 DM „Borges im Kino“. Hrsg. v. Hanns Zischler. Rowohlt Literaturmagazin No. 43, 1999, 178 S., 18 DM