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Vom Überleben im grünen Bereich

Über Wiesen latscht jeder mal. Besser, Sie knien sich mal hin. Denn wilde Wiesen sorgen für unser Über-leben. Aber wie lange noch?

Sieht nicht nur gut aus, ist auch für den Menschen lebenswichtig: Grashüpfer auf einer Wiese Foto: Dieter Reichelt/ plainpicture

Von der Wiese Ulrike Fokken

Der Zitronenfalter fliegt schon. Zuverlässig wie jedes Jahr verlässt er an einem sonnigen Tag im März sein Versteck. Zwischen Blättern oder an einem Ast hat er den Winter ausgeharrt, schwebt nun am warm beschienenen Rand der Wiese zwischen Erlenbruch und Kiefernwald durch die noch kalte Luft, flattert zwischen den kargen Ästen, als würde er schon mal die künftigen Brutstätten seiner Nachkommen erkunden. Ein paar Ameisen sind zwischen trockenen Stängeln und graubeige Grasbüscheln unterwegs. Ein Käfer schwelgt in den glänzenden Kotpillen, die ein ziehender Hirsch fallen ließ.

Die kleine Eiszeit im Leben der Insekten geht gerade zu Ende. Noch ist es ruhig im Luftraum über den Wiesen. Den Bienen, Hummeln, Wespen und Schwebfliegen ist es noch zu kalt, und zu fressen finden sie noch nichts. Die Wiesenblumen blühen ja noch nicht. Die meisten Insekten wachen gerade auf, krabbeln aus dem Winterlager im Laub, kommen unter morschem Holz und aus den Wurzelstöcken hervor. Viele von ihnen machen es wie der Zitronenfalter: Er schützt sich mit dem selbst gemachten Frostschutzmittel Glykol vor dem Einfrieren. Andere sind in den Winter als Raupe oder Larve gegangen und kommen im Frühjahr erst als das Tier hervor, das wir dann Schmetterling oder Käfer nennen. Wenn ausreichend viele der sechsbeinigen Verwandten überlebt haben, summen, schwirren, zirpen sie bald alle wieder, hüpfen von Grashalm zum Wegerich, fliegen vom Klee zur Margerite, saugen süßen Saft aus den Blüten, bestäuben, was bestäubt werden muss, und halten so das Leben am Leben.

Wenn wir uns hinknien und auf Augenhöhe mit Ameise und Mistkäfer begeben, können wir im Frühjahr einen der Tricks der Pflanzen beobachten. Pflanzen sind erfinderisch, denn sie können sich nicht mal eben schnell woandershin bewegen, wenn jemand an ihnen frisst oder ein Hochwasser sie überflutet. Allein zur Fortpflanzung haben Gräser und Kräuter auf den Wiesen allerhand entwickelt, denn nicht alle haben Blüten, mit denen sie Hummeln, Fliegen oder Wespen locken können. Schauen wir also genau hin, sehen wir grüne Spitzen der Gräser aus der Erde drängen, pelzige Brennnesseln wühlen sich durch das Dickicht der abgestorbenen Gräser vom letzten Sommer, der Wegerich wächst hellgrün aus der Mitte der rotbraunen Blätter vom vergangenen Jahr nach. All die Kräuter und Gräser haben in der Erde überwintert, natürlich nicht als grünes Blatt, sondern als Samen, Knolle oder Wurzel, die die Trockenheit und Kälte im Winter überstehen können. Die Vielfalt der Wiese überlebt im Untergrund.

Das Wiesen-Abc

Vom Menschen gemacht Wiesen gibt es nur, weil Menschen sie brauchen und deswegen von Büschen und Bäumen freihalten. Wiesen sollen Futter und Heu für die Kühe bringen. Ohne Menschen und Kühe gäbe es Wiesen daher nur im Hochgebirge, in extrem nassen oder extrem trockenen Gebieten, wo keine Bäume wachsen.

Hotspots der Artenvielfalt Für die Natur sind Wiesen ein Glücksfall. Im Lauf der Jahrtausende haben sich Wiesen zu Hotspots der Artenvielfalt entwickelt. Gräser, Kräuter und eine Vielzahl von Insektenarten haben sich dem Lebensraum Wiese angepasst. So wachsen Gräser nach, auch wenn sie schon einmal gemäht wurden. Etliche Wiesenpflanzen blühen erst nach der traditionell ersten Mahd Mitte Juni, können sich also fortpflanzen, obwohl sie gemäht werden. Auf diese blauen, roten und violetten Blüten fliegen Hummeln, Bienen, Wespen, Schwebfliegen und Schmetterlinge. Sie finden dank dieser Raffinesse der Pflanzen den ganzen Sommer über ausreichend Nahrung.

Der Feind der Wiesen Artenreiche Wiesen sind mittlerweile selten. Landwirte führen Dünger und Gift auch den Wiesen zu, um mut­maßlich den Ertrag des Grasackers für die Massentierhaltung zu erhöhen. Und sie sensen nicht gemächlich, sondern mähen mit der Maschine alles kurz. Von der Blütenpracht übrig bleibt dann nur der Löwenzahn. (ufo)

Nico Eisenhauer würde das so nie sagen, durchdringt er doch wissenschaftlich die biologische Vielfalt von Wiesen. Und die ist um vieles vielfältiger, als sie hier beschrieben werden kann. Eisenhauer beobachtet Regenwürmer, Asseln, Fadenwürmer, Springschwänze und das, was sie im Boden bewirken. Mit einem Team von Insektenkundlern und Pflanzenexpertinnen forscht er auf der wichtigsten Wiese Deutschlands, die im März noch ebenso öde erscheint wie alle anderen Wiesen. Es ist eine beigebraune Brache, die sich über zehn Hektar an der Saale bei Jena erstreckt, am Rand von ungezählten Maulwurfhügeln durchlöchert. Auf 400 wissenschaftlich besamten Stücken dieser Wiese gehen ForscherInnen seit mittlerweile 16 Jahren der Frage nach: Wie wichtig ist die biologische Vielfalt für das Funktionieren von Ökosystemen? Mit anderen Worten: Was passiert, wenn Zitronenfalter, Wiesenhummel, Knabenkraut, Glockenblume oder eine der anderen Arten verschwinden?

Die Grashüpfer und Regenwürmer, die Gänseblümchen und Grasnelken auf der Saale-Wiese haben Eisenhauer eine Antwort gegeben. „Es kommt auf jede einzelne Art an“, sagt Eisenhauer, der als Leiter mehrerer Forschungsprojekte am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig solche Sachen nicht mal eben so dahinsagt. „Der Verlust jeder einzelnen Art ist im Ökosystem spürbar bemerkbar“, sagt Eisenhauer, den das Wirtschaftsmagazin Capital vor vier Jahren in der Kategorie Wissenschaft zu den „Best of Germany“ kürte. Denn: „Vielfalt erzeugt Stabilität.“ Und die stärkt die Widerstandskräfte bei Flut, Dürre und anderen Ereignissen, die Pflanzen und Tiere erschüttern.

Die Erkenntnisse von der Wiese in Jena kommen in ihrer Tragweite der Entdeckung des von Menschen verursachten Klimawandels gleich. Es hat nur noch niemand so laut gesagt. Bislang waren Ökologen davon ausgegangen, dass es nicht weiter auffällt, wenn eine Art in einem Ökosystem mit einer hohen biologischen Vielfalt verschwindet. Sie dachten, dass die anderen Tiere und Pflanzen die Lücke im Ökosystem ausgleichen. Sie vermuteten, dass eine Wiese auch mit weniger Tier- und Pflanzenarten genauso gut auskommt. Doch das Jena-Experiment hat gezeigt, dass die Natur nicht das macht, was die Menschen sich denken. Denn auch seltene Arten entscheiden dar­über, ob ein Ökosystem funktioniert – „vielleicht sogar disproportional zu ihrer Häufigkeit“, schreiben Eisenhauer und seine KollegInnen über die Ergebnisse der Forschung auf der Jena-Wiese.

Betrachtet man eine artenreiche Wiese von oben, dann bietet sie zunächst Vögeln jede Menge Insekten und Würmer als Nahrung. Mit vielen Insekten überleben die Vögel und ihre Brut. Aus der Übersicht wird aber auch klar, wie wichtig sie für Menschen ist. Die Wiese liegt zwischen anderen Ökosystemen wie Wald, Fluss und Stadt, und diese Ökosysteme beeinflussen sich gegenseitig. Auch Menschen leben in einem Ökosystem, wenn auch technisch verändert wie in einer Stadt. Als Homo sapiens sind wir dennoch ein Teil der Natur und abhängig von den Leistungen, die die Tiere im System bringen. Wie etwa der Regenwurm.

Nico Eisenhauer, Sprecher des Jena-Experiments

Der Regenwurm und seine Vorlieben

Regenwürmer lieben Rotklee. In dem artenreichsten Areal der Forschungswiese hat Nico Eisenhauer 60 verschiedene Kräuter, Gräser und Hülsenfrüchtler gepflanzt, zu denen auch der Rotklee gehört. Im Boden vermehren sich deshalb Regenwurmarten prächtig, Fadenwürmer, Mikroben, Pilze und Asseln sind eingewandert. Sie alle ernähren sich von den abgestorbenen Pflanzenteilen – Biologen nennen das zersetzen, denn Würmer und Konsorten setzen die pflanzlichen Reste in verwertbare Stoffe um.

Damit unterstützen die Wirbellosen die menschliche Zivilisation gleich vierfach. Sie speichern den Kohlenstoff im Boden, den die Pflanzen vorher aufgenommen haben. Das ist gut fürs Klima. Die kleinen Lebewesen binden zudem die Nährstoffe wie Phosphat oder Ammonium, die die Pflanzen später zum Wachsen brauchen. Das ist gut für den Heu-Ertrag und die Landwirtschaft. Eisenhauer hat nachgewiesen, dass artenreiche Wiesen produktiver sind als Monokulturen. Die biologische Vielfalt produziert also mehr Futter für Kühe. Und die Würmer und Mikroben schützen das Grundwasser: Wenn sie Stickstoffverbindungen speichern, kommt weniger Nitrat ins Grundwasser. Das ist gut für alle.

Die Regenwürmer können aber noch mehr. Sie bauen Röhren aus ihrem dunklen Reich an die Erdoberfläche. Regenwasser versickert dort hindurch schneller als auf verdichteten Wiesen der Monokultur, hat Eisenhauer gemessen. Denn im Boden von artenarmen Wiesen wühlen keine oder nur sehr wenige Regenwürmer. Regenwürmer helfen somit bei Hochwasser, und auch das ist gut für alle Bewohner der näheren Umgebung. Die biologische Vielfalt stabilisiert also das Leben über das eigene Ökosystem hinaus.

Wenn die Mücke systemrelevant ist, darf man nicht nur den Verlust von Elefanten betrauern. Insektenforscher haben im vergangenen Sommer die Öffentlichkeit aufgeschreckt, als sie den Rückgang der Insekten-Biomasse um 80 Prozent in Naturschutzgebieten innerhalb von 30 Jahren meldeten. Das Bundesamt für Naturschutz warnt nun zum Frühlingsbeginn, dass auch der Großteil der Insektenarten außerhalb der gesetzlich geschützten Gebiete bedroht ist. 52 Prozent der Zikadenarten steht auf der Roten Liste, knapp die Hälfte der Laufkäferarten droht zu verschwinden. Da die Natur nun schon in Schutzgebieten siecht, haben Union und SPD im Koalitionsvertrag verabredet, sich um das Insektensterben zu kümmern.

Foto: imago

Sie könnten jetzt loslegen und die Brut in diesem Frühjahr schützen. „Pestizide in Schutzgebieten verbieten, dort nicht mehr düngen, kein gebeiztes Saatgut ausbringen“, zählt Axel Ssymank die „dringenden Sofortmaßnahmen“ auf. Ssymank leitet im Bundesamt für Naturschutz die Abteilung für die EU-Schutzgebietsverordnung.

Zum Glyphosat und dem Nervengift Neonicotinoid, mit denen Landwirte direkt Insekten, Gräser und Kräuter töten, kommt ein unsichtbares Gift aus der Luft in die Natur, sagt er. Stickoxide wie Ammonium aus der Massentierhaltung und Stickstoffdioxid aus Autos und Schornsteinen legen sich auf das Land und die Gewässer. Pflanzen brauchen Stickstoff zum Wachsen, doch dröhnt die Menschheit zu viel Stickstoff in die Umwelt. Der massenhafte Stickstoff würgt daher die biologische Vielfalt bei Gräsern und Kräutern ab und trägt ebenfalls zum Insektensterben bei.

So unscheinbar die Wiese bei Jena auch im März erscheint, offenbart sie ihren Artenreichtum im Boden. Amsel, Feldlerche, Grünspecht und andere Singvögel leben von Insekten, Spinnen und Würmern. Spitzmaus, Grasfrosch, Maulwurf wüssten nicht, was sie sonst fressen sollen. Sie legen Vorratskammern mit lebenden Regenwürmern an. Unzählige Maulwurfshügel wölben sich auf der Wiese, auf der im Sommer 60 Sorten Gräser, Kräuter und Klee wachsen. Unterirdisch verbreiten sich die Regenwürmer, auf die die Maulwürfe so scharf sind. Vielfalt schafft eben Vielfalt.

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