:
Sie spricht Gedichte in Flaschen, zeichnet hauchzart: Aber die Themen der indischen Künstlerin Shilpa Gupta, zu entdecken in Lübeck, sind politisch
Von Katrin Bettina Müller
„I look at things“, Buchstabe für Buchstabe klappt leise ratternd auf der Anzeigentafel um, „with eyes different from yours“. Das Buchstabenboard erinnert an Bahnhofshallen oder Flughäfen, an Eile und Anspannung, Warten und Unruhe. Die Schriftzeilen aber, die sich in der Installation „Still They Know Not What I Dream“ (2021) von Shilpa Gupta in der Kunsthalle St. Annen immer wieder verändern, manchmal nur durch das Verschieben eines Buchstaben, dann den Austausch von Teilsätzen, laden ein, einzutauchen in eine Szene voller Intimität und Theatralität.
Man kann sich dabei die Analyse einer Beziehung ebenso gut vorstellen wie eine Selbstbefragung: „To feel – what I once felt“. „To your greed – to my desires“, „uncontrollable desires – greed uncontrollable“. So nüchtern die Anzeigentafel ist, das entfaltet poetische und dramatische Kraft.
Die ästhetischen Mittel, die die Künstlerin aus Mumbai einsetzt, sind schlicht und einfach. Sie kommen aus dem Alltag. Damit in Installationen und Performances arbeiten zu wollen, interessierte Shilpa Gupta, 1978 geboren, schon als junge Kunststudentin der Sir J. J. Art School in Mumbai in den 1990er Jahren. Obwohl die Ausbildung dort sehr traditionell und akademisch war und – wie sie im Interview Noura Dirani, der Leiterin der Kunsthalle, für den Katalog erzählte – niemand die Begriffe Installationskunst oder Konzeptkunst kannte.
Der Erweckungsmoment
Sie erinnert sich an den Moment, als sie in einem Kunstbuch auf Arbeiten des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Joseph Kosuth stieß: die Erleichterung, dass in der Welt auch andere so arbeiten, wie sie es möchte, verbunden mit der Entäuschung, doch nicht die Erste in diesem Feld zu sein.
Auf internationalen Biennalen fand die indische Künstlerin früher Anerkennung als im eigenen Land. Heute ist Shilpa Gupta international eine Größe, die schon in der Tate Modern in London, im Centre Pompidou in Paris oder dem Mori Museum in Tokio zu sehen war. In Lübeck zeigt sie nun ihre erste große Einzelausstellung in Deutschland in der St.-Annen-Kunsthalle. Sie wurde dort mit dem Possehl-Preis für Internationale Kunst 2025 ausgezeichnet.
Grenzen als Setzungen, die künstlich Landschaften, Täler, Dörfer und Gemeinschaften zerschneiden, sind ein wichtiges Thema ihrer Kunst, resultierend auch aus der Geschichte Indiens und der Kolonialzeit. Auf der Grenzziehung zwischen Indien und Pakistan 1947 gehen bis heute gesellschaftliche Traumata und politische Spannungen zurück, auf die sie vielfach anspielt.
Knäuel aus Garn gewickelt
Da gibt es ein Knäuel, in vielen Stunden gewickelt aus einem handgewebten Garn, von einer Länge, 1.188,5 Meilen, die der Länge der befestigten Grenzanlagen zwischen Indien und Pakistan entspricht. Hauchzarte Zeichnungen zeigen Details von Uniformen und Sicherungsanlagen, getuscht mit Pigmenten aus Marihuana Pflanzen, die in Bangladesch nahe der Grenze angebaut werden, obwohl der Konsum in Indien streng verboten ist.
Eine Skulptur, die an aneinandergereihte Wirbel erinnert oder einen fossilen Organismus, zeigt eine lange Kette von Objekten wie Schere, Spachtel, Kelle oder Zange, eingenäht in weißen Stoff. Einerseits eine übliche Verpackung, andererseits wirkt das wie ein Element der Tarnung im Schmuggel und im illegalen Grenzverkehr. So finden die Widersprüche zwischen staatlichen Setzungen und politischen Systemen und einer Alltagsrealität, die sich daran den Kopf wund stößt, zu einer Form, die nie laut und anklagend ist, aber viel Empathie transportiert.
Bewusste Leerstellen
Über vier Etagen entfaltet sich die Ausstellung in großzügigen Installationen. Ein Raum gilt der Zensur und der Einschränkung von Freiheitsrechten. In Bilderrahmen, die von Stäben unterteilt sind, erkennt man, aber erst aus großer Nähe, feine Zeichnungen mit Aussparungen anstelle von Figuren. Etwas fehlt in diesen Bildern. Sie gelten Inhaftierten, von denen Gupta auf einem Blatt daneben einen Satz notiert hat.
Gedichte von verhafteten Künstler:innen hat sie in Flaschen gesprochen in einer Performance. Nun stehen sie, beschriftet mit kurzen Sätzen wie „Laughter becomes a crime“, nebeneinander in einem großen Regal, Glühlampen dazwischen. Das ist ein Monument des Trauerns und der Anteilnahme mit den Stimmen, die nicht mehr gehört werden sollen. Sprache und Gesang als Instrument des Widerstandes sind auch in einer sehr schönen Klanginstallation präsent.
In einem großen Teil ihrer Arbeiten nutzt Shilpa Gupta die englische Sprache, aber nicht nur an die internationale Kunstwelt adressiert. Die Alltagsmaterialien und Situationen, mit denen sie arbeitet, sind ein Element, um auch jenseits des etablierten Kunstkontextes die Kommunikation zu suchen. Sie hat im öffentlichen Raum gearbeitet. Eine Lichtinstallation war zuerst am Strand von Bandra, einem Vorort von Mumbai, aufgebaut. In Englisch, Urdu und Hindi leuchtet der Satz „I live under your sky too“ jetzt in Lübeck auf, die Schriftzeichen verbinden und trennen sich wieder: eine Beschwörung von Gemeinschaft.
Shilpa Gupta: „We last met in the mirror“, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, bis 1. März 2026
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen