„Volksabstimmungen“ in der Ostukraine: Klare Scheinreferenden
In ukrainischen Medien häufen sich Berichte von Zwang bei der Stimmabgabe. Russland bereitet den Anschluss der Regionen vor.
Vier von Russland besetzte Gebiete der Ukraine haben russischen Angaben zufolge mit überwältigender Mehrheit für einen Anschluss an Russland gestimmt. In den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk sowie in den von russischen Truppen besetzten Gebieten der Regionen Cherson und Saporischschja sollen teilweise fast 100 Prozent der Wähler*innen für die Angliederung gestimmt haben, berichtet forbes.ru am Mittwoch unter Berufung auf offizielle Angaben.
Demnach sollen in Donezk 99,2 Prozent für den Anschluss gestimmt haben (2.116.800 dafür, 4.938 dagegen), in Luhansk 98,4 Prozent (1.636.302 Einwohner dafür, 16 555 dagegen). In der Region Saporischschja seien es 93,1 Prozent gewesen (430 261 von 541 093 Wahlberechtigten) und in der Region Cherson 87 Prozent (497.501 Einwohner stimmten für eine Angliederung an Russland).
Das russische oppositionelle Internetportal Meduza.io berichtet indes von Zwang, der auf BewohnerInnen der besetzten Gebiete durch die von Russland kontrollierten Verwaltungen ausgeübt worden sei. So hätten Angehörige von Wahlkommissionen in Begleitung von bewaffneten Männern Hausbesuche gemacht. Viele Bewohner, so Meduza, hätten sich aus Furcht vor Repressalien nicht getraut, mit „Nein“ zu stimmen oder auch nur einfach der Wahl fernzubleiben. Sogar Teenager zwischen 13 und 17 Jahren seien gezwungen worden, mit abzustimmen.
Unterdessen sind die Chefs der nicht anerkannten Gebilde dabei, die Angliederung an Russland im Eiltempo voranzutreiben. Leonid Pasechnik, Chef der „Volksrepublik“ Luhansk erklärte, er habe einen Appell an den russischen Präsidenten Wladimir Putin vorbereitet, in dem er ihn bittet, den Beitritt der Volksrepublik Luhansk zu Russland „im Einklang mit dem Gesetz“ zu prüfen. Gleichzeitig kündigte er an, zeitnah nach Moskau zu reisen.
Sondersitzungen im russischen Parlament
Ähnlich lautende Erklärungen gaben auch die Chefs der von Russland kontrollierten Gebiete Donezk, Cherson und Saporischschja ab.
Auch in Russland laufen die Vorbereitungen der Aufnahme der neuen Gebiete in die Russische Föderation auf Hochtouren. Die Aufnahme der neuen Regionen, so zitiert die russische Agentur ura.news den russischen Senator Alexander Baschkin, mache eine Verfassungsänderung erforderlich.
„Die Volksabstimmungen sind vorbei. Die Ergebnisse sind eindeutig“, schreibt Dmitrij Medwedew, stellvertretender Chef des russischen Sicherheitsrates auf seinem Telegram-Kanal. „Willkommen zu Hause in Russland“.
Und der Sprecher der russischen Parlamentskammer, Wjatscheslaw Wolodin, kündigte für den 3. und 4. Oktober Sondersitzungen des Parlamentes an. Er lässt keinen Zweifel daran, dass es dabei um legislative Entscheidungen, die durch die Referenden erforderlich seien, gehe.
Sichtlich enttäuscht ist Russlands staatlich gelenkte Presse über die Position Chinas. In einem Beitrag für ukraina.ru, ein Sprachrohr der ukrainischen Separatisten, bedauert ein Asat Rahmanow, dass China offensichtlich die Referenden nicht anerkennen werde. Gleichzeitig fügt er bedauernd hinzu, dass China auch nach 2014 die Krim nicht als Teil von Russland anerkannt habe.
„Illegale Abstimmungen“
Trotz der russischen Drohungen, im Falle weiterer ukrainischer Angriffe auf diese Gebiete auch vor einem Einsatz mit Nuklearwaffen nicht zurückzuschrecken, sieht man in der Ukraine keinen Grund für eine Kursänderung. Im Falle einer Annexion dieser Gebiete, so Präsident Selenski bei seiner Rede vor dem Sicherheitsrat der UNO, werde es keine weiteren Verhandlungen mit Wladimir Putin mehr geben.
Gegenüber Radio Liberty betonte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Oleksiy Danilov, die Unrechtmäßigkeit der russischen „Referenden“ in den besetzten Gebieten der Ukraine. Nur die Ukraine, so Danilov, habe das Recht, auf ihrem Territorium Referenden abzuhalten. Man werde alle, die sich an der Organisation illegaler Abstimmungen beteiligt hatten, zur Verantwortung ziehen, so Danilow.
Danilow äußerte die Hoffnung, dass die internationale Gemeinschaft auf die versuchte Annexion der ukrainisch besetzten Gebiete, die der russische Präsident möglicherweise am 30. September ankündigt, entschlossener reagieren wird als 2014, als es Russland gelungen sei, die ukrainische Krim zu annektieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann