Vize-Regierungschefin will kämpfen: „Ich werde die zweite Chance nutzen“
Bettina Jarasch (Grüne) über ihr Dilemma, mit Franziska Giffey (SPD) Berlin durch die Krise bringen und zugleich Wahlkampf gegen sie machen zu müssen.
Frau Jarasch, in der Krise gut zusammen mit Franziska Giffey regieren und sich gleichzeitig von ihr und der SPD abgrenzen, um im Wahlkampf als Grüne zu punkten – wie soll das gehen?
Bettina Jarasch: Die Menschen haben gerade ganz andere Sorgen als eine Wahlwiederholung. Da müssen wir zuallererst mal zeigen, dass wir es hinkriegen, Berlin verlässlich durch die Krisen zu steuern. Das muss gehen, und das kann gehen, wenn wir ein paar Dinge, ich nenne es mal so, vor die Klammer ziehen. Das muss auch gehen, obwohl uns jetzt der Wahlkampf einholt, wenn das Urteil des Verfassungsgerichts wie erwartet am 16. November kommt.
Aber das ist ja gerade Ihr Dilemma: Bekommen Sie die Sache gemeinsam gewuppt, profitiert davon üblicherweise die Nr. 1 – hier eben Regierungschefin Giffey mit ihrer SPD. Wie gleichzeitig wuppen und explizit für die Grünen werben?
Das meine ich ja mit dem Vor-die-Klammer-ziehen. Natürlich können wir nicht so tun, als gäbe es keinen Wahlkampf – das wäre völlig unsinnig. Zugleich befinden wir uns in einer Energiekrise. Auch die Inflation trifft viele der Berlinerinnen und Berliner hart. Der Senat muss und wird arbeitsfähig bleiben, um die Menschen zu entlasten und ihnen zu helfen. Und einige Dinge müssen wir noch zusätzlich gemeinsam hinkriegen.
Jarasch (53) stammt aus Augsburg, führte von 2011 bis 2016 mit dem jetzigen Finanzsenator Daniel Wesener den hiesigen Grünen-Landesverband und wurde dann Mitglied des Abgeordnetenhauses. Nach einer vergeblichen Kandidatur für die Berliner Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl 2017 blieb sie im Landesparlament und wurde überraschend Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl 2021. Nach langer grüner Führung in Umfragen reichte es bei der Wahl nur zu Platz 2 hinter der SPD. In der rot-grün-roten Koalition ist Jarasch Vize-Regierungschefin und Verkehrssenatorin. (sta)
Und welche sind das?
Erstmal das Entlastungspaket des Senats als Ergänzung zu dem, was vom Bund kommt. Dafür beschließen wir kommenden Dienstag einen Nachtragshaushalt …
Auf den kommen wir später noch zu sprechen.
Daneben darf man im Sinne einer guten Regierungsarbeit nicht plötzlich anfangen, populistisch ganz tolle Dinge in die Welt zu setzen, die dann nicht kommen …
… was allerdings zum üblichen Spiel gehört.
Das würde aber gerade in der jetzigen Situation das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Politik weiter erschüttern. Was gefordert wird, muss auch umsetzbar sein. Trotz Wahlkampf müssen wir liefern, was mit dem Entlastungspaket versprochen wurde. Und da kann ich sagen, ich habe geliefert: Das 29-Euro-Abo ist eine Entlastung, die ankommt und auch schon in Kraft ist …
Die Urheberschaft dafür hat sich jüngst im Parlament wieder die SPD zugeschrieben.
Gute Ideen haben immer viele Mütter.
… Väter aber auch.
Mir ist neben dem 29-Euro-Abo aber besonders wichtig, dass wir nun die Menschen entlasten, die es besonders nötig haben. Deshalb haben wir vereinbart, dass es von Januar bis März befristet das Sozialticket für 9 Euro gibt. Das haben wir mit dem Verkehrsverbund auch schon verhandelt. Die Sozialsenatorin hat vorgeschlagen, zusätzlich den Zugang zum Sozialticket für alle zu erweitern, die durch die Wohngeldreform künftig einen Anspruch auf Wohngeld haben.
Und Sie finden das …?
Das finde ich gut, das ist gezielte Entlastung für die, die wenig verdienen. Sozial gestaffelte Angebote brauchen wir natürlich auch dann, wenn das bundesweit gültige 49-Euro-Ticket kommt. Das muss aber alles im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg verhandelt werden, da können wir nicht alleine Wünsch-dir-was spielen.
Das Besondere ist ja, dass sich die Umfragelage gegenüber 2021 so stark verändert hat: Die Grünen liegen deutlich vor der SPD, der damaligen Wahlsiegerin – Sie haben eine zweite Chance, Regierungschefin zu werden. Wäre die Lage konstant, könnte sich die Koalition ja einfach um Wiederwahl bewerben.
Dazu kann ich nur sagen: Wir haben den Wahlkampf weder herbeigerufen noch ausgerufen.
Im Ergebnis ist es gleich: Wenn Sie so viel Grün wie möglich wollen, werden Sie auch so viel wie möglich kämpfen müssen.
Durch das Wahlchaos von 2021 ist insgesamt das Vertrauen in die funktionierende Stadt, in die Verlässlichkeit von Politik erschüttert. Das wird ein Gradmesser in diesem Wahlkampf sein: Wer agiert populistisch und macht haltlose Versprechungen, wer kann verlässlich durch die Krise steuern und wer hat Konzepte, wie wir aus der Krise besser und stärker wieder herauskommen können?
Sie waren auf fünf Jahre als Verkehrssenatorin eingestellt und können nun unverhofft noch mal versuchen, selbst Chefin zu werden. Da müssen Sie doch zwangsläufig immer deutlich machen: Ich bin besser als Franziska Giffey.
Wenn es eine Wahlwiederholung gibt, dann werde ich diese zweite Chance auch nutzen, das ist klar. Aber nochmal: Vielleicht gerade weil wir Grünen in den Umfragen führen, schreien wir nicht danach, sondern nehmen an, was das Verfassungsgericht urteilt. Denn das gehört mit zur Verlässlichkeit und zum Funktionieren von Demokratie.
Rein praktisch ist das alles schwer vorstellbar: Sie treffen sich morgens mit Frau Giffey und den anderen Senatsmitgliedern, arbeiten hart, aber fair an der Sache und beharken sich dann abends auf Wahlkampfpodien? Das soll gehen?
Das muss gehen. Wenn man Regierungsämter übernimmt, dann gibt es eine Stelle, an der man über seine eigene Partei hinaustreten und einen Schritt weiter gehen muss. Das gilt für alle Regierungsämter. Wir sind alle miteinander für die gesamte Stadt zuständig. Diesen Schritt muss man hinkriegen, wenn man gut regieren will. Auch wenn uns das schizophren vorkommen mag.
Wie lange Versprechen des guten Umgangs halten, hat sich jetzt nach dem Urteil zur Friedrichstraße gezeigt, als Sie und Frau Giffey sich mächtig gefetzt haben.
So etwas sollte sich nicht wiederholen. Wenn wir trotz Wahlkampf verlässlich miteinander regieren wollen, dann dürfen weder der Senat noch die Pressekonferenz danach zur Bühne für den Wahlkampf werden. Der findet draußen statt. Franziska Giffey und ich haben genügend Gelegenheiten, miteinander auch Konflikte zu besprechen. Die Senats-Pressekonferenz ist dafür der falsche Ort.
Gesetzt den Fall, Sie kriegen es hin, verlässlich miteinander zu arbeiten: Dann sitzt Ihnen doch Ihre Partei im Nacken und drängt auf mehr Schärfe, um mehr für die Grünen rauszuholen.
Natürlich werde ich versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, warum ich die bessere Regierende Bürgermeisterin bin. Aber davon unabhängig stehen wir in der Verantwortung, die Krisen zu bewältigen – und dazu gehört natürlich die Klimakrise. Hätten wir den Kampf gegen den Klimawandel in den letzten Jahrzehnten radikaler geführt und die Energiewende vorangetrieben, dann wären auch unsere Energiepreise nicht so stark von Importen abhängig.
Womit wir wieder bei der Klammer wären, vor die Sie wichtige Dinge ziehen wollen – welche außer dem Entlastungspaket?
Die Lehrerverbeamtung und die Anpassung der Besoldung an die Tarifentwicklung. Da haben wir Versprechen gemacht, die wir einlösen müssen. Und dann gibt es Gesetzesvorhaben, die schon zweimal vereinbart waren, aber immer noch nicht umgesetzt sind: die neue, ökologische Bauordnung und das noch fehlende Kapitel zum Wirtschaftsverkehr im Mobilitätsgesetz. Bei beidem sind wir uns im Kern einig, und sie sind jetzt trotzdem im Prozess wieder aufgehalten. Darüber können wir nicht ernsthaft ein weiteres Mal Koalitionsverhandlungen führen – die müssen wir endlich beschließen.
Was ist mit der Verfassungsänderung zum Wählen ab 16, die mit der FDP abgesprochen ist?
Die kommt wohl leider nicht mehr. Zwar müssen sowohl Senat als auch Parlament ihre politische Verantwortung bis zum Wahltag wahrnehmen – aber Verfassungsänderungen sind angesichts einer möglichen Wahlwiederholung zumindest fragwürdig. Zudem hat die FDP schon signalisiert, dass daraus vor der Wahl nichts mehr wird, und das kann ich auch verstehen.
Jetzt aber wie angekündigt noch zum Nachtragshaushalt. Sie waren ja selbst fünf Jahre Parlamentarierin – können Sie verstehen, dass es angesichts des sehr engen Zeitplans bei der Opposition viel Kopfschütteln gibt?
So ein Eilverfahren ist eine Zumutung fürs Parlament, ganz klar. Mir war deswegen wichtig, dass wir auf die Opposition zugehen, denn das Verfahren mit den zwei Sondersitzungen verlangt ihr ja einiges ab. Umso mehr, als die Opposition ja grundsätzlich ein Informationsdefizit im Vergleich zu den Koalitionsparteien hat, was die Hintergründe des Haushalts angeht.
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