Visite im Pflegeheim: Ghettoisierung von Dementen
Alzheimerkranke und deren Angehörigen erhalten nach der Pflegereform mehr Geld, die strukturelle Probleme bleiben aber. Besuch in einem Heim für Demente.
In seiner rechten Hand liegt jetzt dieses seltsame Stück Metall, kühl, silbern, vorne rund und gewölbt. Es sieht aus wie eine kleine Schaufel. Wenn er damit in die glibberige, braune Masse sticht, fühlt sich das ganz weich an. Er lädt ein wenig davon auf, balanciert damit, ganz vorsichtig. Da kommt die blonde Frau.
"So, Herr Wenzl*", sagt Heike Körber. Sie nimmt ihm den Löffel aus der Hand. "Das ist doch der Nachtisch."
Im Würzburger Matthias-Claudius-Heim, einer Spezialeinrichtung für Demente, gibt es zum Mittagessen drei Gänge, zuletzt Kaffeecreme. Heike Körber, die Pflegehelferin, rollt auf einem Bürohocker von Tisch zu Tisch. "Frau Rahm, wovon träumen Sie, Ihr Essen wird kalt." Acht Bewohner, verteilt auf drei Tische. Für die anderen sind Kolleginnen zuständig. "Ach, Herr Wenzl, geben Sie mir das mal." Er hat den Apfelsaft ausgekippt. Nicht ruckartig und aus Versehen, sondern langsam und sehr bedächtig. Nun sieht er zu, wie die Pfütze auf dem Tisch immer größer wird.
Gut 25 Kilometer vom großen Mietshausbau des Matthias-Claudius-Heims liegt die fränkische Kleinstadt Marktbreit. Vor 107 Jahren wurde dort eine Frau namens Auguste Deter geboren. Als sie noch keine 50 Jahre alt war, verhielt sie sich ähnlich ungewöhnlich wie die meisten der 56 Bewohner des Würzburger Heims. Sie wusste nicht mehr, was all die Unbekannten von ihr wollten, wo sie sich gerade aufhielt und vor allem: warum. Ihre Stimmung schlug minütlich um. Der Psychiater, der nach Deters Tod ihr Gehirn mit den vielen abgestorbenen Nervenzellen untersuchte, hieß Alois Alzheimer. Heute gibt es in Deutschland 650.000 Menschen, die an der nach ihm benannten Krankheit leiden. Insgesamt 1,5 Millionen werden als dement bezeichnet. Sie vergessen ganz grundlegende Dinge immer wieder. Was ist ein Löffel, wo ist die Toilette, wie heiße ich? Zwei Drittel von ihnen sind über 80 Jahre alt, und weil die Alten immer älter werden, steigt auch die Zahl der Dementen. 2050 könnten es bei den über 65-Jährigen schon 2,5 Millionen sein. Was machen wir mit denen?
Die Lösung des Matthias-Claudius-Heims nennt deren Leiter etwas zugespitzt: Ghettoisierung. Hendrik Lütke sitzt am hellen, runden Konferenztisch in seinem Büro. Er trägt ein graues Hemd und einen Dreitagebart. Die Wand hinter ihm ist rot, ein sanftes, warmes Rot. "Wenn Sie es ganz kritisch sehen, ist das wirklich die Ghettoisierung einer bestimmten Menschengruppe", sagt Lütke. Drastisch formuliert heißt das: Die Dementen werden weggesperrt. Im Haus können sie sich frei bewegen, sie dürfen auch jederzeit in den Garten. Aber ihre Freiheit endet an der Eingangstür. Das Ganze bezeichnet man als "beschützende Einrichtung". Und statt Ghettoisierung könnte man "Gleiche unter Gleichen" sagen. So wie es Lütke eigentlich auch tut.
In Schweden, erzählt er, werde das Prinzip noch radikaler verfolgt. Wer wegen seiner schwindenden Fähigkeiten nicht mehr in eine Gruppe passe, müsse in eine andere. Lütke hält den Ansatz für ein Erfolgsrezept. Er hat den Vergleich. Der Diakon leitet zusätzlich ein ganz normales Heim, wo Demente mit weniger Vergesslichen wohnen. Und er ist verantwortlich für eine Sozialstation, die Angehörigen hilft, Alzheimer-Kranke zu Hause zu pflegen. Es lässt sich in Hendrik Lütkes Verantwortungsbereich gut beobachten, wie unterschiedlich die Gesellschaft mit dementen Alten umgeht.
Im Speisesaal trippelt Körber mit ihren Fingern über Frau Duschers Rücken.
"Sei ruhig!", murrt die.
"Sind Sie schlecht gelaunt, Frau Duscher?" Körber streicht ihr über den türkisen Pullover.
"Hau ab!"
"Lach mal, Frau Duscher."
"Du Arschloch, du."
"Frau Duscher, du kleine Maus." Heike Körber trippelt weiter.
Manchmal sei es wie Theaterspielen, sagt die Pflegehelferin. Sie ist 39 Jahre alt, war einmal Metzgereifachverkäuferin, aber den Beruf hat sie gehasst. Nachdem sie ihren krebskranken Schwiegervater gepflegt hatte, bis er starb, ließ sie sich vor drei Jahren umschulen. Die Arbeit liebt sie, auch wenn sie manchmal abends nach Hause kommt und erst mal keinen Ton mehr sagen möchte, weil sie den ganzen Tag geredet hat. Sie sagt, sie tut es für die Wärme, die sie hier bekommt.
"Geborgenheit", sagt Hendrik Lütke, in seinem Büro mit der warmen, roten Wand, "darum geht es." Wenn sich die Dementen geborgen fühlen, sind sie weniger aggressiv. Zuwendung ist das beste Beruhigungsmittel. Zuwendung - und Medikamente. Es gibt Momente, in denen wirkt das Matthias-Claudius-Heim wie eine Kuschelgruppe. Da sitzt der große, breite Heißat auf einer Couch, schaut auf den hellen Holzflur mit den Aquarellen, klappert mit dem Gebiss und streicht seiner Sitznachbarin ganz vorsichtig übers Bein. Sie schläft. Manchmal beschweren sich Angehörige über ihn: "Ich möchte nicht, dass meine Mutter neben diesem Mann sitzt." Aber warum, fragt Lütke dann.
Um 9.39 Uhr schiebt Heike Körber den ehemaligen Polizeikommissar Hartmann an seinen Platz. Drei Stunden hat sie gebraucht, um alle acht Bewohner aus ihrem Bereich fertigzumachen und zum Frühstück zu bringen. In einem normalen Heim müsste sie in derselben Zeit zehn, eher zwölf Patienten versorgen. Herr Schall hat inzwischen sein Brötchen aufgegessen, den Kaffee getrunken, ist aufgestanden, in den Gang hinaus. Nach zwei Minuten kommt er zurück: "Bekomme ich hier Frühstück?"
Einige Kilometer vor Würzburg. Ein schmutzigrosa Haus. Ein grauer Morgen. Matthias Franz, der Mann von der Sozialstation, sitzt auf dem Bettrand und hält Gerlinde Krafts Hand. Sie liegt komplett angezogen, mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. "Packen wirs an, ist schon gleich zehn Uhr", sagt Franz. Frau Kraft murmelt etwas, sie bewegt sich nicht. Er darf jetzt nicht daran denken, dass er die zehn Kilometer von der Sozialstation später noch einmal herfahren müsste, wenn sie jetzt nicht aufsteht. Er darf sich nicht vorstellen, wie viel mehr Arbeit das wird, wenn ihre volle Einlage ausläuft. Wenn die grüne Kordhose sich voll Urin saugt und sie mit der tropfenden Hose vielleicht noch durchs Haus irrt.
Franz atmet tief durch. Neulich lag neben dem Bett ein Fotoalbum, das hat er aufgeklappt, die Bilder angeschaut, Fragen gestellt. Irgendwann hat sie sich zu ihm gesetzt und mitgemacht.
Auf dem Nachttisch steht ihr Hochzeitsbild, schwarz-weiß. Sie lächelt scheu darauf, ihr Mann schaut ernst. Der ist vor ein paar Tagen ins Krankenhaus gekommen. Er hat sie vorbildlich gepflegt, denkt Franz, hat sie machen lassen, Schränke einräumen, ausräumen, umräumen. Einfach machen lassen. Gar nicht erst diesen Druck aufgebaut, dieses emotionale Unwohlsein provoziert. Wer bin ich? Erinnerst du dich nicht? Du musst dich doch erinnern! Ich bin doch der Hans, dein Mann! Ich bin doch dein Mann!
Er hat das alles ertragen. Irgendwann hat er aber den Sozialdienst dazugeholt, weil sie sich nicht mehr von ihm säubern und waschen ließ. Wahrscheinlich hat er es für einen Moment doch nicht ausgehalten, wollte sie zu irgendetwas zwingen. Wir müssen jetzt diese Einlage ausziehen! Und wenn sie auch sonst alles vergisst, das hat sie sich gemerkt. Vielleicht war es so. Oft ist es so.
Jetzt, wo Herr Kraft im Krankenhaus ist, muss sich die Tochter kümmern. Die wohnt 30 Kilometer weit weg. An manchen Tagen kommt Frau Kraft deshalb zur Tagespflege ins Matthias-Claudius-Heim. Nachmittags streunt sie dann mit all den anderen Ruhelosen durch die Flure. Es gibt dort vier Plätze für solche Gäste. "Abnabelungsprozess", sagt Lütke, der Heimleiter, "darum geht es." Die Angehörigen müssen lernen, egoistisch zu sein, indem sie sich auch mal freinehmen und die Dementen zu einem Betreuungsnachmittag schicken, in die Tagespflege. Oft trennen sie sich aber nur schwer. Sie pflegen bis zur Erschöpfung, weil sie abends nicht nach Hause gehen können wie die Pfleger nach dem Dienst. Es gibt kein Dienstende. Es gab auch keins für Gerlinde Krafts Mann.
Vor ein paar Tagen hat er einem Nachbarn im Ort ausgeholfen. Er sollte einen Hänger wegfahren. Zwei Stunden war er unterwegs. Ist einfach ziellos in der Gegend herumgekurvt, fast wie seine Frau, die manchmal durch den Ort läuft, bis jemand sie nach Hause bringt. Er konnte sich an nichts erinnern nachher. Totaler Blackout. Jetzt ist er im Krankenhaus.
"Helfen Sie mit?", fragt Matthias Franz. "Hm", sagt Gerlinde Kraft. Und bewegt sich. Steht auf, ruckartig. "Langsam", sagt Franz und lächelt, "ganz langsam." Es ist manchmal, denkt er, als würde mit einem Mal ein Schalter umgelegt.
Die Lösung heißt "lassen", findet Franz. "Laisser-faire", sagt Hendrik Lütke. Wenn jemand gern mit den Händen isst, wenn er nur so noch selbstständig essen kann, warum sollte man ihm das verbieten? Nur weil wir ihm nicht gern dabei zusehen? In einem Matthias-Claudius-Heim kann man die Pfleger dazu bringen, das zu akzeptieren. Aber nicht in St. Paul.
Im dem Wohnstift sind 70 Prozent der alten Leute noch recht klar im Kopf. Da fallen Frau Katz, Frau Hermann und Frau Anton einfach auf, so wie Auguste Deter auffiel, an der Alois Alzheimer die Demenz entdeckt hat, weil sie den anderen Leuten in der Anstalt immer ins Gesicht fassen wollte. Die haben sie dann geschlagen.
Wenn Frau Hermann, die auch an Alzheimer leidet, morgens gewaschen werden soll und deshalb "Barrabas" schreit, immer wieder "Barrabas", hintereinanderweg, minutenlang, weil sie das nicht will, dann wirft Frau Katz manchmal mit ihrer Tasse. Auch Frau Katz ist dement, sie brummelt meist vor sich hin, und gelegentlich singt sie "Lustig ist das Zigeunerleben". Die beiden sitzen im Speisesaal etwas abseits.
Andere Bewohner fühlen sich von den Dementen belästigt. Wie die essen! Außerdem gehen sie in fremde Zimmer, räumen dort auf, bedienen sich von den Geburtstagspralinen oder legen sich einfach ins Bett. Nach dem Mittagessen geht Frau Anton. Die meisten anderen legen sich zum Mittagsschlaf hin. Sie kruschtelt noch ein bisschen im Schrank herum, dann kommt sie zurück in den Speisesaal. Eine Schwester bringt sie noch mal ins Zimmer. Nach ein paar Minuten ist sie wieder da. Eine andere Schwester bringt sie zurück. So geht das eine Weile.
Auf der anderen Mainseite, im Matthias-Claudius-Heim, laufen zu dieser Zeit viele einfach durch die Gänge. Manche sitzen auf Sofas und dösen. Die Unruhe ist keine Ausnahme, die den Laden aufmischt, sie ist der Normalzustand. In St. Paul hatten sie mal überlegt, die Unruhigen in einer Dementenstation im vierten Stock unterzubringen. Es werden jetzt aber immer mehr, man würde sie da oben gar nicht alle unterkriegen.
Sie versuchen, besser zu betreuen, Beschäftigung anzubieten. Die Diakonie Würzburg wirbt um Ehrenamtliche, die für ein paar Euro Aufwandsentschädigung mithelfen. Heute kommt eine ehemalige Krankenschwester und knetet Frau Hermann nachmittags ein bisschen die Hände, streichelt sie, spricht mit ihr. Die Ehrenamtlichen verbessern die Situation, sagt Hendrik Lütke, der Diakon, aber eigentlich sind sie keine Lösung. Die Gesellschaft drückt sich nur darum, genügend Fachkräfte zu bezahlen. "Wir fühlen uns im Stich gelassen", sagt er.
In St. Paul soll bald jede Station eine gerontopsychiatrisch Fachkraft bekommen. Jemanden, der weiß, wie man mit den krankhaft Vergesslichen umgeht, der sie beschäftigt, statt sie in ihr Zimmer zu schicken. Sie wollen die Philosophie aus dem Matthias-Claudius-Heim auf St. Paul übertragen.
"Schluss mit Bastelgruppen", sagt Lütke, der seit einiger Zeit auch St. Paul leitet. Man könne doch nicht alle Bewohner einfach jeden Tag eine Stunde irgendwas basteln lassen, egal, ob die früher operettenliebende Professoren waren, fußballverrückte Fliesenleger oder groschenromansüchtige Hausfrauen. Die Dementen, sagt Lütke, leben doch alle in ihrer eigenen Welt. Nur, wer sich dorthin begibt, wer deren Code, deren Matrix versteht, erreicht die Verwirrten. "Der Schlüssel heißt Biografiearbeit", sagt Hendrik Lütke.
Im Computer liegen die Leben. Unterteilt in Kategorien. Umfeld, Elternhaus, Erziehung, Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter. Zu jedem Punkt Fragen: Welchen Beruf hatten die Eltern? Gab es Haustiere? Welche Witze wurden erzählt? An wen oder was glaubt die Patientin? Angehörige werden befragt, auch die Dementen selbst, solange sie noch reden. Wenn man weiß, dass jemand Handwerker war, kann man den auch mal mit dem Hausmeister auf Tour schicken statt in die Bastelgruppe, sagt Lütke. Vielleicht haut er mal einen Nagel in die Wand.
Heike Körber nutzt das. Wenn sie weiß, dass sich eine Frau im Speisesaal wie ein Restaurantgast fühlt, wundert sie sich nicht mehr, wenn sie um die Rechnung bittet. "Geht aufs Haus", sagt Körber dann und hält ihr nach dem Essen noch die Tür auf, damit sie das Restaurant verlassen kann.
Es ist manchmal wie ein Spiel, wie ein sehr anstrengendes. Wenn sie heim geht, hat Heike Körber trotzdem meist das Gefühl, dass sie gewonnen hat.
*Alle Namen von Dementen und Angehörigen sind geändert.
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