Virologe Streeck im Interview: „Ich bin ein Impf-Fan“
Wie sicher wird der Impfstoff? Und was muss passieren, solange es ihn noch nicht gibt? Virologe Hendrik Streeck über den Umgang mit der Coronakrise.
taz am wochenende: Herr Streeck, Biontech und Pfizer haben diese Woche einen Durchbruch bei der Suche nach einem Corona-Impfstoff gemeldet. Ist damit ein baldiges Ende der Pandemie in Sicht?
Hendrik Streeck: Das ist zumindest Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Es hat sich gezeigt, dass ein neuartiger Impfstoff, basierend auf RNA-Technologie, funktionieren kann – damit haben viele Experten nicht gerechnet. Aber mehr kann ich dazu noch nicht sagen, denn die Details sind nicht bekannt.
Was fehlt Ihnen?
Wir wissen bisher nur, dass es in der Gruppe, die den Impfstoff erhalten hat, 90 Prozent weniger Infektionen mit Symptomen gab als in der Gruppe, die ein Placebo bekam. Wir wissen aber noch nicht, ob es auch insgesamt weniger Infektionen gab oder ob nur die Symptome heruntergesetzt waren. Und wir wissen nicht, ob es bei allen Altersgruppen gleichermaßen gewirkt hat.
Der 41-Jährige, der die Virologie der Universität Bonn leitet, wurde in diesem Jahr zu einem der führenden Corona-Experten in Deutschland – neben Christian Drosten, als dessen Gegenspieler er oft gesehen wird. Streeck, der zuvor in Harvard über HIV geforscht hat, führte im nordrhein-westfälischen Heinsberg die erste große Studie an Coronapatienten durch.
Glauben Sie, dass der Impfstoff schon bald zugelassen werden kann?
Es wäre mein Weihnachtswunsch. Aber es gibt keine Daten, auf deren Grundlage ich das einschätzen kann.
Sie sagten kürzlich, dass es einen Impfstoff vielleicht erst in zehn Jahren geben wird. Waren Sie da zu pessimistisch?
Ich glaube, dass ich Realist bin. Die Impfstoffforschung ist immer von Unsicherheiten geprägt. Ich habe gesagt, es kann schnell gehen, es kann aber auch zehn Jahre dauern – wir wissen es einfach nicht. Ich kenne das aus anderen Impfbereichen: Es kann böse Überraschungen geben, etwa dass sich Menschen trotz einer Impfstoffinjektion infizieren und sich bei ihnen ein schwerer Verlauf entwickelt, eine sogenannte antikörperverstärkende Erkrankung. Und bei vielen anderen Krankheiten ist es bisher nicht gelungen, einen Impfstoff zu entwickeln, etwa bei MERS, Dengue, Hepatitis C oder HIV.
Beim Biontech-Impfstoff werden genetische Informationen in den Körper injiziert. Das ist ein völlig neues Verfahren, das vielen Menschen Angst machen könnte.
Das ist aber keine genetische Veränderung. Wer sich noch an den Biounterricht erinnert, weiß vielleicht: Von der DNA wird mRNA gebildet, und daraus werden dann Proteine gebaut. Nun wird diese mRNA injiziert, mit der die Zelle Proteine herstellen kann. Der Zelle wird quasi das Kochrezept für ein paar Virusproteine gegeben. Diese Proteine werden vom Körper erkannt, der dann Antikörper dagegen bildet.
Ein Gesundheitsrisiko sehen Sie nicht?
Mit RNA-Impfstoffen gibt es wenig Erfahrung. Aber das Verfahren, dass menschliche Zellen benutzt werden, um Bestandteile von Viren oder Impfstoffen zu bilden, gibt es schon bei sogenannten Vektor-Impfstoffen, etwa gegen Ebola. Das ist ein gängiges Verfahren. Und es hat den Vorteil, dass die Proteine nicht aufwendig im Labor produziert werden müssen.
Würden Sie sich, sobald der Corona-Impfstoff vorliegt, selbst impfen lassen?
Das hängt von der Verfügbarkeit ab. Ich gehöre weder zu einer Risikogruppe, noch bin ich in einem Bereich unterwegs, wo ich unbedingt sofort geimpft werden müsste. Aber generell bin ich ein Impf-Fan – es gibt nichts, wogegen ich nicht geimpft bin, gegen das man sich impfen lassen kann.
Noch ist der Impfstoff nicht da, die Pandemie muss also anders bekämpft werden. Den sogenannten Lockdown light, also die neuen Kontaktbeschränkungen und die Schließung von Gastronomie und Freizeiteinrichtungen, auf den sich Bund und Länder vor zwei Wochen geeinigt haben, halten Sie aber für unnötig. Warum?
Ich halte den Lockdown nicht für unnötig, das habe ich auch nicht gesagt.
Das war doch die Kernaussage des Papiers, das sie mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und Ihrem Kollegen Jonas Schmidt-Chanasit vorgestellt haben: keine Verbote, sondern besserer Schutz von Risikogruppen.
Aus meiner Sicht ging und geht es vor allem darum, nicht von einem Lockdown in den nächsten zu gehen, sondern endlich eine Langfriststrategie zu entwickeln.
Wie sollte die Ihrer Meinung nach aussehen?
Im Moment passiert das, was man eigentlich verhindern will: Das Virus diffundiert durch die Gesellschaft einschließlich der Risikogruppen. Wir sollten uns daher darauf konzentrieren, diese zu schützen. Das geht dort relativ leicht, wo Risikogruppen insbesondere leben, etwa in Alten- und Pflegeheimen oder in Krankenhäusern. Dort kann man Testschleusen für Besucher einrichten und das gesamte Personal zweimal pro Woche mit Pooltests testen. Und man kann das Tragen von FFP2-Masken, die ziemlich gut gegen Infektionen schützen, für alle Besucher verpflichtend machen.
Aber es gibt in der Bevölkerung auch viele andere Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören.
Da ist die Sache komplizierter. Aber auch für sie ist besserer Schutz möglich, indem sie mit FFP2-Masken versorgt werden und es Angebote gibt, die Kontakte verringern, etwa durch Nachbarschaftshilfen, organisierte Fahrten zur Vermeidung des ÖPNV, Kontaktpersonen, die bevorzugt getestet werden können, und und und.
Warum wird das nicht längst gemacht?
Weil dafür keine Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Gesundheitsämter müssen sich stark auf die Kontaktnachverfolgung konzentrieren, die ohnehin schon an vielen Orten zusammengebrochen ist, statt auf diesen Schutz von Risikogruppen.
Aber sind 20.000 Neuinfektionen am Tag nicht auch unabhängig von den Risikogruppen ein Problem?
Wichtiger als die absolute Zahl der Infektionen ist, wo diese relativ häufig stattfinden. Eher unter Jugendlichen, die oft keine Symptome haben? Oder eher in Altenheimen, wo es viele schwere Verläufe gibt? Ich plädiere dafür, das Infektionsgeschehen differenzierter zu betrachten und dann in einer regionalen Ampel darzustellen: Wie viele Menschen wurden getestet, wie viele infizierten sich, wie viele liegen im Krankenhaus, wie viele auf Intensivstationen? Denn die Situation ist nicht überall gleich: Berchtesgaden etwa hatte kürzlich extrem viele Neuinfektionen, aber die Krankenhäuser kamen dort nicht an Kapazitätsgrenzen.
Aber würde eine solche regionale Unterteilung nicht noch mehr Verwirrung stiften darüber, welche Regeln wo gelten? Schon jetzt blicken ja viele Menschen nicht mehr durch.
Es geht zuerst darum, das Infektionsgeschehen regional besser darzustellen. Ob und wie dann die Maßnahmen regional angepasst werden, ist dann die nächste Frage. Deshalb kann man dies so pauschal nicht beantworten.
Am Montag trifft sich die Kanzlerin erneut mit den Ministerpräsidenten, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Was raten Sie ihnen: Sollen die Beschränkungen verlängert werden oder nicht?
Das hängt davon ab, welche Strategien man dann fährt. Wenn im Dezember alles pauschal geöffnet wird, sich sonst aber nichts ändert, werden wir in wenigen Wochen wieder da sein, wo wir waren. Ich würde es davon abhängig machen, was man kurzfristig auf die Beine zu stellen schafft, vor allem für den Schutz von Risikogruppen.
Die Corona-Epidemie bedeutete auch für Sie eine große Veränderung: Vorher kannte Sie in der Öffentlichkeit niemand, jetzt sind Sie auf allen Kanälen präsent – und ernten auch viel Kritik. Macht Ihnen die Aufmerksamkeit Spaß, oder ist das eher eine Belastung?
Mal so, mal so. Was mich sehr betrübt, ist, dass wir nicht wirklich miteinander diskutieren, auch nicht immer unter uns Virologen. Es gab eine Phase, in der ich mich zurückziehen wollte, auch weil die Kritik durch Drohungen eine sehr unschöne Note erhielt. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, das dies auch der falsche Weg wäre, denn ich glaube, dass ich etwas beitragen kann.
Teilweise werden Sie auch von Coronaleugnern vereinnahmt, die Sie mit früheren Aussagen zitieren – etwa dass Corona nicht gefährlicher sei als eine Grippe oder dass Masken nichts nützen würden. Wie gehen Sie damit um?
Wann immer ich Gelegenheit dazu bekomme, distanziere ich mich von den Coronaleugnern. Ich habe immer gesagt: Das ist ein ernst zu nehmendes Virus. Für Demonstrationen wie in Leipzig habe ich keinerlei Verständnis.
Aber tragen Sie mit Ihrer Kritik an der Bundesregierung nicht möglicherweise doch dazu bei, die Leugnerszene zu stärken?
Ich finde es eher gefährlich, wenn man keine Diskussionen zulässt. Das spielt den Leugnern erst recht in die Hände. Stattdessen sollten wir deutlich machen, dass es trotz Differenzen im Detail einen breiten Konsens gibt – über einzelne Maßnahmen, aber auch über Langzeitstrategien.
Haben Sie das Gefühl, dass man die Leugner noch mit Argumenten erreichen kann?
Ich bin davon überzeugt, dass es besser ist, auf Skepsis einzugehen, als Argumente beiseite zu schieben und sie pauschal als Coronaleugner abzutun. Bei vielen fehlt einfach das Verständnis für die Gefahr, die von diesem Virus ausgeht. Je mehr diskutiert und aufgeklärt wird, desto mehr wird idealerweise auch in diesem Lager Verständnis entwickelt. Darauf setze ich. Ob daraus dann Einsicht folgt, sei dahingestellt, aber deshalb darf man nicht aufhören, mit Argumenten überzeugen zu wollen.
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