Vielfalt: Aufbruch in fremde Welten

An einer Kreuzberger Grundschule erfinden Kinder eigene Welten – Unterwasserwelten, Piratenwelten – und probieren damit aus, wie Identität entsteht. Sie finden originelle Lösungen dafür, wie man diese beeinflussen kann. Heute präsentieren sie ihr Projekt.

Unterwasserwelten wie Atlantis gehören zu den Welten und Sphären, die sich Schülerinnen und Schüler einer Kreuzberger Grundschule ersonnen haben. Bild: AP

„Im Grunde geht es darum, zu verstehen, dass Identitäten konstruiert sind.“ Einfach gesagt und dennoch nicht immer ganz leicht zu vermitteln – zumal wenn der Anspruch, den Arna Vogel vom Verein Sideviews formuliert, sich an GrundschülerInnen richtet.

Eigene Entstehungsmythen

Mit einem Spiel haben Vogel und ihre Kollegin Anja Scheffer Viert-, Fünft- und SechstklässlerInnen der Nürtingen-Grundschule in Kreuzberg den Weg geebnet, die Bedeutung des Satzes zu verstehen. „WeltWeit“ heißt das Projekt, bei dem die Kinder neue eigene Welten erfunden haben, inklusive aller möglichen Entstehungsmythen über Zugehörigkeitsregeln bis zu Herrschafts- und Wirtschaftsformen.

Entstanden sind die Welten dabei ganz plastisch auf dem Schulhof der Kreuzberger Grundschule. Dort haben die Kinder der zwei jahrgangsübergreifenden Klassen, die an dem mehrwöchigen Projekt teilgenommen haben, sie selbst gebaut: aus Planen und Holzlatten, Teppichen und Seilen. Die grenzen auch territoriale Ansprüche ab. Doch in dem WeltWeit-Projekt kommt es auch zu interkulturellen Kontakten.

Aktuell tagt auf dem Schulhof deshalb gerade das Gipfeltreffen. Je zwei VertreterInnen aller fünf neuen Welten, die nach Farben zu unterscheiden sind, treffen sich in einer Runde, um anstehende Fragen und Probleme zu besprechen und zu lösen. Alle tragen T-Shirts in der Farbe ihrer Welt, haben ihre selbst entwickelten Flaggen dabei und stellen sich den anderen mit den symbolischen Grüßen ihrer Herkunftswelt vor.

Die Blauen etwa stammen aus der Welt Atlantis, einer Unterwasserwelt, in der sich ihrem Mythos zufolge gekenterte Schiffer und verschollene TaucherInnen zusammengefunden haben. Die Roten sind Piraten – was erklärt, dass ihr Territorium deutlich unordentlicher als die meisten anderen Welten wirkt: „Wir Piraten räumen eben nicht gern auf“, erklärt Luzy.

Bei den Grünen dagegen ist es äußerst aufgeräumt, ein Soldat bewacht den Eingang zur Welt. Präsidentin Selin spricht auch schon mal ein Machtwort, wenn jemand Regeln bricht. Dennoch hat die grüne Welt Platz für Vielfalt: Hier hat jeder Einwohner seinen eigenen Gruß. Und: Es sitzen in der Welt der Grünen zwei Kinder in gelben T-Shirts. Ursache dafür ist eine Entwicklung, die als Folge einer Katastrophe ins Spiel kam: Migration. Sie ist auch der Grund dafür, dass das Gipfeltreffen eingeführt wurde.

Denn eines Morgens sei eine der Welten auf dem Schulhof zerstört gewesen, erzählt Arna Vogel: Unbekannte hätten über Nacht das Territorium der Gelben verwüstet, die Bewohner waren obdachlos. So sei bei den BewohnerInnen der anderen Welten die Frage entstanden, was sie das angehe, erzählt Vogel. Die Bewohner der anderen Welten mussten sich entscheiden, ob und wie sie sich zu der Katastrophe verhalten sollen.

„Wir haben intern diskutiert und dann zunächst in einer Abstimmung zwei Leute ausgesucht, die den Gelben beim Wiederaufbau ihrer Welt helfen sollen“, erzählt Grünen-Präsidentin Selin. Doch als sich dann herausgestellt habe, dass die Schäden zu groß für Reparaturen waren, mussten andere Lösungen gefunden werden. So kam es zu Einwanderung: Die heimatlosen Gelben sollten sich schriftlich um die Aufnahme in anderen Welten bewerben, entschied der Gipfelrat. Die durften dann entscheiden, wen und unter welchen Bedingungen sie aufnehmen wollen.

Bei den Blauen mussten die Einwanderinnen Naima und Mizgin die strengen Regeln der Unterwassergesellschaft unterschreiben: etwa dass beim Essen nicht gerülpst werden darf. Dafür sind sie gleichberechtigt in die Gemeinschaft aufgenommen. Dass er dennoch weiterhin sein gelbes T-Shirt trage, erklärt Kasimir, Einwanderer bei den Grünen, sei seine Entscheidung: „Ich will ja nicht verleugnen, woher ich eigentlich komme.“ Für sie sei es okay, wenn Kasimir seine Herkunft weiterhin zeigen wolle, zeigen sich die anderen Grünen tolerant. Doch für die Abschlusspräsentation des Projekts, ergänzt der Einwanderer, habe er vor, grüne Streifen auf sein gelbes T-Shirt zu malen: Diversity als Identität.

Die Nürtingenschule hat langjährige Übung mit Respekt und Toleranz. Drei Jahre lang wurde die Schule am Rande des Mariannenplatzes von ExpertInnen des Mobilen Beratungsteams Ostkreuz begleitet, beraten und geschult beim diskriminierungsfreien Umgang miteinander. „Wir wollten diese Erfahrungen in dem WeltWeit-Projekt praktisch umsetzen“, sagt Sideviews-Chefin Anja Scheffer. Bevor sie mit der Erschaffung ihrer Welten begonnen haben, führten die Kinder Interviews mit Menschen, die in verschiedenen Welten leben: etwa der Kreuzberger Bürgermeisterin Monika Herrmann, dem Sänger Peter Fox und Flüchtlingen vom Oranienplatz. „Da hat man schon gesehen, dass manche Leute eben auf die Hilfe von anderen angewiesen sind“, erklärt Carl, der seine blaue Welt auf dem Gipfeltreffen vertritt. Das habe bei der Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen, später eine Rolle gespielt.

Die Interviews, die Welten der Kinder und eine Filmdokumentation des Projekts „WeltWeit“ sind heute ab 13 Uhr auf dem Schulhof der Nürtingenschule am Kreuzberger Mariannenplatz zu sehen.

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