piwik no script img

Viel Bein, wenig Hirn

Spätsommer – Reisezeit für Spinnen. Der Nachwuchs der Krabbeltiere fliegt nun an Fäden mit dem Wind um die Welt. Die Spinne hatte schon immer ein verruchtes Image: Sie taugt als Todesbotin und Glücksbringerin zugleich. Vielleicht verdankt das Tier diesen Ruf ja seinem bizarren Liebesleben. Ein Portrait  ■ von Heide Platen

Altweibersommer, schöner Indian Summer, Septemberende will goldener Oktober werden. Die Wiesen silbrig und grau, die Birkenblätter glänzende Golddukaten. Feine Spinnfäden im Licht, Feenhaare treiben im Wind. Feenhaare, Gespinst der Zwerge und Elfen? Fromme Marienfäden, Reste des Schleiers, der der Gottesmutter auf der Himmelfahrt verlorenging? Wir wissen es heutzutage besser: Alles Unfug, Altweibersommer ist Spinnwebenzeit.

Die kleinen Ekelpakete, die den Hausfrauen Graus und Spinnenphobikern grauenhafte Furcht bereiten, gehen im Herbst auf Reisen. Meist wandern die Jungtiere im Luftzug. Die Männchen der Zwergspinnen schweben auf Weibchensuche durch die ganze Welt. Spinnen besiedeln Wasser und Land. Aufwinde tragen sie in Höhen bis zu dreitausend Metern, manche segeln bis auf das tibetische Dach der Welt. Und werden dort schon erwartet: von einer Artgenossin, die sich der Kälte angepaßt hat und auf die Reisenden vor dem Winde lauert.

Seltsam ambivalent ist das Verhältnis des Menschen zur Spinne, der Fadenzieherin und Schicksalsweberin, der Norne und weisen Frau. Das geometrische Radnetz der Kreuzspinne ist zeitloses Symbol für Vergänglichkeit und Ewigkeit, zugleich zerbrechliches Kunstwerk und stabile Zweckmäßigkeit. Die Weberin wird – „Iiigitt, eine Spinne!“ – mit dem Pantoffel platt gehauen.

Taranteljagd im Hotelzimmer in Griechenland bleibt unvergessenes Urlaubserlebnis. Siegfried erschlägt den Drachen: „Die war so flink. Eine halbe Stunde habe ich sie gejagt. Und dann habe ich sie zu Brei geschlagen.“ Sie, das war eine Lycosa radiata, eine Tarantel aus der Familie der Wolfsspinnen, die größte der europäischen Arten. Nur Schlangen sind noch unbeliebter. Der Spinnenexperte Franz Renner schreibt in seinem Buch „Spinnen – ungeheuer – sympathisch“: „Hauptsächlich bei Frauen scheint eine Spinnenangst deutlich ausgeprägt zu sein.“ Aber auch Männer fürchten sich vor dem Krabbeltier, „bei ihnen ist allerdings der soziale Druck größer, sich dem Objekt ihrer Furcht zu stellen“.

Tierphobien sind im leichteren Fall durch elterliches Vorbild erlernt, im ernsteren der Psychoanalyse als Übertragungsangst bekannt. Haß und Abscheu richten sich statt auf den eigentlich gemeinten Verursacher auf ein anderes, harmloseres Objekt, das zu hassen und zu fürchten weder individuelle noch gesellschaftliche Sanktionen zur Folge hat. Die Spinne ist einerseits Hexen-, Teufelstier, Todesbotin und Gottesfeind. Andererseits gilt sie auch als Glücksbringerin, Wetterprophetin, lebendes Orakel, das zu töten Unglück bringt. Hilfreich habe die Kreuzspinne Jesus erst vor Verfolgern verborgen und dann am Kreuz vor Fliegen beschützt, erzählt eine Legende. „Muttergottestierchen“ heißt folgerichtig das gute Tier in Tirol.

Eine der ältesten Spinnengeschichten erzählt von menschlicher Hybris und göttlichem Neid. Die griechische Göttin Pallas Athene verwandelt die Weberin Arachne in eine Spinne, weil deren Webstück besser gelungen war als das ihre. So webten Generationen von Frauen gerne Fehler in ihre Teppiche – man weiß ja nie. Älter und rationaler aber ist eine zehntausend Jahre alte Höhlenmalerei in Spanien, in der die Spinne als nützliche Fliegenfängerin dargestellt ist.

Allerlei Kurioses über das Wesen der Spinnen verbreitete sich in Europa im Mittelalter. Scharlatane handelten mit Spinnensteinen und –pülverchen. Die Tiere waren aber nicht nur Heilmittel, sondern wurden auch dämonisiert – ihre Gefährlichkeit wurde heillos übertrieben. Sie galten allesamt als fähig, ihr Gift aus der Luft zu filtern und damit Speis und Trank zu vergiften. Im Volksglauben waren sie Widerpart der Bienen, der aus den Blumen bitteres Gift statt süßen Nektars saugte. „Die spinne seuget gifft aus den lieben Rosen, darin eine biene eitel honig findet, was kan sie dazu, dasz ir süszes honig der spinnen zu gifft wird“, sinnierte Martin Luther.

Die Wahrheit ist rabiater. Spinnen sitzen auf Blumen, um anfliegende Bienen zu fangen und aufzufressen. Sie können sich dabei zur Tarnung der Farbe der Blütenkelche anpassen.

Einem spätmittelalterlichen Irrtum verdankt auch eine Verwandte des griechischen Urlauberopfers, die apulische Tarantel (Lycosa tarentula), ihren weltweiten Ruhm. Nach ihr heißt die wilde Tarantella süditalienischer Volksfeste. Der Tanz entwickelte sich zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert in Apulien. Er geht zurück auf eine seit der Antike übliche Tanztherapie gegen ein Krankheitsphänomen, das im Hochsommer vor allem junge Feldarbeiter befiel und sie apathisch machte. Die Symptome wurden fälschlich Spinnenbissen zugeschrieben, die Opfer hießen „Tarantati“. Seit dem 17. Jahrhundert stritten Gelehrte über die Ursachen der Krankheit. Vermutlich litten die Betroffenen, das ergaben neuere Forschungen, an den Folgen von Hitzschlag und Sonnenstich. Die Tarantella jedenfalls wurde zum Frauenhit auf Volksfesten mit deftigen Liedtexten: „Wohin biß dich die kleine Tarantel? – Unter die Fransen des Rockes!“

Wirklich gefährlich können den Menschen von den rund 35.000 Spinnenarten nur fünfzig werden. Und hier gilt die Regel, daß die größeren meist die harmloseren sind. In Europa ist nur bei einer Vorsicht geboten. Die einen Zentimeter kleine Schwarze Witwe lebt im Mittelmeerraum und siedelt zwischen Steinen, Geröll, auf Mauern und Feldern, aber auch in Häusern und auf Toiletten im Freien. Der erbsenrunde Körper dieser Kugelspinne ist schwarz und mit auffällig roten Warnflecken gemustert. Ihr leichter Biß wird meist erst bemerkt, wenn die Symptome auftreten: Schmerzen in den Lymphknoten, Schwitzen, Zittern, Herzklopfen, Lähmungen, Atemnot. In Deutschlands Wiesen am Rhein beißt vor allem das Dornfingerweibchen während der Eiablage und verursacht Schüttelfrost und Schmerzen.

Der Name der Spinne kommt von ihrem Tun. Aber nicht alle Spinnen spinnen, und nicht alle spinnen gleich. Die Wasserspinne lebt in einer selbstgewebten Taucherglocke mit Luftblase. Manche weben Fangröhren, legen Stolperfäden oder Klappfallen, manche versehen ihr Bauwerk mit Klebfäden, andere produzieren mit ihren Spinndrüsen am Hinterleib winzig feine Fädchen, in denen sich die Opfer verheddern. Eines der symmetrischsten Netze bauen die Kreuzspinnen. An ihnen testeten Wissenschaftler die Wirkung von LSD. Den berauschten Versuchstieren gerieten Ordnungssinn und Fäden mit wachsender Dosis zunehmend durcheinander.

Alle Spinnen sind Fleischfresser. Sie jagen vorwiegend Insekten und gerne auch ihre eigenen Artgenossen. Manche Tiere fressen ihren Fang stückchenweise auf, andere saugen ihn aus. Sie injizieren der Beute Sekrete, die sie verflüssigen. Jagdspinnen springen ihren Opfern ins Genick wie die Katzen den Mäusen.

Das Sexualleben der Spinnen ist eine komplizierte Angelegenheit. Das Fortpflanzungsorgan beider Partner liegt am Hinterleib. Eine direkte Kopulation ist ihnen durch den Körperbau nicht möglich. Die Spinnenmännchen scheiden das Sperma aus und saugen es in einem der beiden der Taster rechts und links der Freßscheren wieder auf. Den Taster applizieren sie dann in die Geschlechtsöffnung am Hinterleib der weiblichen Spinne.

Die meist kleineren Männchen haben es dabei verdammt schwer, den Beutetrieb der Weibchen in den zur Fortpflanzung umzulenken. Oft gelingt ihnen das nur kurz, und sie retten sich nach der Begattung durch einen blitzschnellen Sprung. Manche Männchen umbalzen ihre Auserwählten, tanzen ihnen mit den Vorderbeinen etwas vor, winken, trommeln oder konzertieren durch Aneinanderreiben der Beine. Andere klopfen artig an, indem sie im artspezifischen Rhythmus am Netz zupfen. Einige umgarnen ihr Weibchen sicherheitshalber mit lockeren Spinnfäden oder fesseln es.

Raubspinnen bringen eine gutverpackte Fliege als Brautgeschenk mit und paaren sich, während die Spinnenfrau die Gabe frißt. Ist die Braut dabei nicht schnell genug, schnappt sich der Spinnenmann sein Restgeschenk wieder und geht damit anderweitig auf Werbung. Ist allerdings das Männchen zu langsam, wird es seinerseits – meist versehentlich – mit verputzt. Kann schließlich passieren.

Viele Spinnenarten betreiben Brutpflege, tragen die eingesponnenen Eier im Kokon mit sich herum oder transportieren die geschlüpften, noch weichen Jungen auf ihrem Rücken herum. Die kleinen Spinnen sind erst erwachsen, wenn sie sich mehrmals gehäutet haben.

Spinnen gehören zur weltweit artenreichsten Klasse der Gliederfüßer. Die ältesten Spinnentiere, riesige Seeskorpione, sind ausgestorben. Insekten sind Spinnen nicht. Sie zählen mit ihren acht Beinen und meist sechs bis acht Augen zu den Spinnentieren (Arachnida), ebenso wie die Ordnungen der Skorpione, Milben und Weberknechte. Die Weberknechte, dem Augenschein nach die spinnenbeinigsten aller Spinnen, unterscheiden sich von den Echten Spinnen (Araneae) durch ihren einteiligen Körper. Zudem fehlt ihnen die für Spinnen typische Taille zwischen den beiden Körperhälften, sie haben nur zwei Augen, können nicht spinnen und sind Allesfresser.

Spinnen pflegen zu polarisieren: Entweder Spinnefeind oder Spinnenfreund. Beide finden sich auch in der Literatur. Jean Paul beobachtete naturschwärmerisch: „es war ein stiller warmer nachsommermittag ... auf den übersponnenen stoppeln arbeiteten noch spinnen am fliegenden sommer.“ Schiller dagegen ekelte der Altweibersommer: „Du weißt, Bruder, daß mir auf diesem weiten Erdenrund kein Geschöpf so zuwider ist, als eine Spinne und ein altes Weib.“ Auch August von Platen fühlte im Angesicht einer Spinne „entsetzlichen Abscheu“.

Gottfried Keller, Humanist mit Liebe zum Absurden, setzte sich im vorigen Jahrhundert dichterisch für die Aussöhnung von Mensch und Spinne ein: „Erst als schon die Haare grauten, / Begann ich sie zu schonen / Mit den ruhiger angeschauten / Brüderlich zu wohnen; / Jetzt mit ihren kleinen Sorgen / Halten sie sich still geborgen, / Läßt sich einmal eine sehen, / lassen wir sie weislich gehen.“

Literatur:

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen