Videos von Polizeigewalt: Empathie für Täter
Zwei Videos übergriffiger Polizisten machen im Netz die Runde. In beiden Fällen nehmen die Vorgesetzten ihre Beamten in Schutz.
D ie Empathie der Polizei für mutmaßliche Straftäter kann erstaunlich weit gehen. In einem Fall, geschehen in Göttingen, schlägt ein Mann einem 19-Jährigen ins Gesicht und kassiert dafür zwar ein Ermittlungsverfahren. Der Leiter der örtlichen Polizeiinspektion bezeichnet die Tat aber als „menschlich verständlich“. Das Opfer habe schließlich seine Nachbar*innen genervt und den späteren Schläger als „Spacko“ beschimpft.
In einem zweiten Fall, geschehen in Dresden, bedroht ein Mann einen anderen auf offener Straße mit dem Tod („Schubs mich und du fängst dir ’ne Kugel!“) und zieht dann kurz an seiner Pistole. Der örtliche Polizeipräsident rüffelt den mutmaßlichen Täter zwar („So ein Satz darf nicht fallen“), schließt aber Konsequenzen aus, da die Situation am Rande einer Demonstration sehr hektisch gewesen sei. Im Übrigen habe der Mann den Drohsatz zwar eingestanden, aber glaubhaft versichert, gar nicht gedroht zu haben. Beide Vorfälle ereigneten sich in den letzten Tagen. Beide wurden auf Video aufgezeichnet. Und, was die Milde der Polizeichefs erklärt: Beide Männer waren Polizeibeamte im Einsatz.
Damit stehen die Fälle symbolhaft für eine Entwicklung der letzten Jahre und Monate: Durch den technischen Fortschritt können Bürger*innen heute sehr viel einfacher als noch vor zehn Jahren Polizeieinsätze filmen und die Aufnahmen verbreiten. Durch die öffentliche Debatte über Polizeigewalt nutzen Bürger*innen diese Möglichkeit heute wohl sehr viel häufiger als noch vor einem Jahr. Polizeibehörden geraten dadurch vermehrt in Situationen, in denen sie vermeintliche oder tatsächliche Grenzüberschreitungen ihrer Beamt*innen kommentieren müssen.
Und mit dieser Aufgabe sind die Verantwortlichen nicht selten überfordert: Angesichts der Beweislage können sie, in Göttingen wie in Dresden, die Vorfälle zwar nicht leugnen. Und doch werben sie für Verständnis für ihre Untergebenen, liefern diesen im Nachhinein eine Quasi-Rechtfertigung für ihr Handeln.
Wer sehr wohlwollend ist, könnte das als vorbildliches Führungsverhalten im Sinne einer gesunden Fehlerkultur verstehen: Nach außen hin haben sich Vorgesetzte vor ihre Mitarbeiter*innen zu stellen, um so ein Klima zu schaffen, in dem offen über Fehler und deren Vermeidung gesprochen werden kann.
Solch eine Fehlerkultur setzt aber erstens voraus, dass intern über Ursachen für das Fehlverhalten und Maßnahmen dagegen diskutiert wird. Weder in Göttingen noch in Dresden scheint das der Fall zu sein: Die Polizeiführung externalisiert das Problem, indem sie die Verantwortung einem störrischen Ruhestörer beziehungsweise vermummten Demonstranten zuschiebt. Und zweitens stößt ein solches Verständnis von Fehlerkultur an seine Grenzen, wenn es nicht um einfache Pannen geht (Beweismittel übersehen, Formular falsch ausgefüllt, unhöflich geworden), sondern um mutmaßliche Straftaten.
Zumal dadurch in der Bevölkerung zu Recht das Bild einer Polizei entsteht, die mit zweierlei Maß misst: Wer als Demonstrant in einer hitzigen Situation die Nerven verliert und einen Polizeibeamten bewirft, beleidigt oder auch nur duzt, kann sicher nicht mit dem Verständnis von Polizeipräsidenten rechnen. Und auch nicht mit der Empathie von Innenministern und Regierungschefs.
In Sachsen hat mittlerweile Ministerpräsident Michael Kretschmar die Drohung des Polizeibeamten verteidigt. „Man darf Aktion und Reaktion nicht verwechseln“, sagte er. Wie heißt es noch mal? Der Fisch stinkt vom Kopf.
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