piwik no script img

berliner szenenVia Dolorosa

Schmerz tuckert

„Que dois-je faire?“ Was soll ich tun? Irgendeine Werbeagentur bringt zurzeit so genannte Weltfragen auf die Reklametafeln. Wenn man Zahnschmerzen hat, ist die Antwort relativ klar. Auf zum Zahnarzt. Nur zu welchem? Allein an der Schönhauser Allee lauert hinter jeder zweiten Fassade ein Dentist. Die früher so beliebte Einkaufsmeile ist inzwischen zu einer Via dolorosa der Karies und der Parodontose geworden. In den Seitenstraßen tummeln sich zwischen Rotlichtbars, Kiezkneipen und siamesischen Gemüsehändlern Dutzende weiterer Diplom-Stomatologen, Sänitäts- und Medizinalräte, Zahntechniker, Kieferorthopäden und sonstiger Spezialisten. Und in den Hinterhöfen wahrscheinlich ebenso viele arbeitslose Germanisten. Die Namen der Zahnmediziner klingen auch für Nichtphilologen sehr vielversprechend. Dr. med. Hammer. Dr. med. Wohlleben. Medizinalrat Doz. Dr. sc. med. Höcker. Mysteriös. Dipl. Stom. Goldmann. Klingt teuer. Dr. med. Breitsprecher, Kieferorthopäde. Huch! Kommt aber sowieso nicht in Frage. Schließlich treibt mich der tuckernde Schmerz hinter der Backe in eine namensmäßig eher unverdächtige Praxis. Wehmütig blicke ich noch mal an die Ecke, zum Burger-King. Werde ich jemals wieder in einen Doppel-Whopper beißen können? Im Wartezimmer liegt eine alte Illustrierte. Benommen blättere ich in den bunten Seiten. Wie unbeschwert war doch das Leben vor dem 11. September. Meinem bröckelnden Zahn, erfahre ich dann im Behandlungsraum, droht ein ähnliches Schicksal wie dem WTC. Am Abend ist die Analogie dann perfekt: Im Badezimmerspiegel blinkt mir Ground Zero im eigenen Mund entgegen. Der Wiederaufbau, sagt der Kostenvoranschlag, wird teuer.

ANSGAR WARNER

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen