Verzweifelte ukrainische Familie in Kiel: Aus dem Krieg in den Behördenstress
Familie Kholkina aus der Ukraine ist von Kyiv nach Kiel geflohen. Sie stößt bei der Wohnungssuche auf wohlmeinende Vorschriften mit paradoxem Effekt.
Im März dieses Jahres war die Familie aus der Ukraine in Richtung Deutschland aufgebrochen. Die Entscheidung zu gehen, war ihr nicht leicht gefallen: „Wir dachten es wäre schnell vorbei, dass es irgendwie geregelt wird und kein Krieg vor unserer Haustür ausbrechen würde.“ Die Wohnung der Kholkinas lag gegenüber dem Hauptquartier der Nationalgarde und der Polizei in Kiew. Wegen der gefährlichen Lage verbrachten sie – Mutter Nataliia, Vater Volodymyr und die drei Mädchen Oksana (zehn), Olha (zwölf) und Viktoriia (14) – drei Wochen im Keller.
Als eine Rakete in der Nähe ihres Zuhauses einschlug, wussten sie, dass sie weg müssen. „Wir haben fünf Rucksäcke gepackt und sind geflohen,“ erzählt Vater Volodymyr. Er zeigt auf einen dunkelblauen Rucksack. Nach tagelanger Reise erreichten die Kholkinas Kiel. Endlich konnten sie aufatmen.
Gleich am nächsten Tag ließen sie sich bei der Stadt registrieren. Noch am Anmeldetresen wurde der Familie eine Wohnung als Notunterkunft zugewiesen. Nataliia möchte diese Wohnung nicht groß dekorieren. Schließlich ist die Wohnung nur eine Übergangslösung. Sie ist barrierefrei und eigentlich Menschen mit Beeinträchtigungen vorbehalten. Als die Familie eine feste Wohnung fand, waren alle erleichtert.
Jobcenter stellt sich quer
Das „Nein“ des Jobcenters war eine Überraschung. „Wir waren sehr enttäuscht,“ sagt Volodymyr. „Wir sehen nicht, dass die Familie da langfristig wohnen kann“, sagt eine Sprecherin des Jobcenters. „Wir bekommen ihren Antrag nicht unterschrieben.“ Die Wohnung sei zu klein, aber vor allem zu teuer.
Die Eltern können die Entscheidung nicht nachvollziehen. Sie leben derzeit auf 60 Quadratmetern. Das Jobcenter hält die 77 Quadratmeter des Mietangebots für „nicht angemessen“. Die Stadt Kiel setzt bei einer fünfköpfigen Familie eine Wohnungsgröße von 90 bis 105 Quadratmetern an. Die Mietobergrenze liegt dann bei 845,50 Euro. Den Betrag und die Umzugskosten übernimmt das Jobcenter.
„Unter Berücksichtigung des Fluchtaspekts ist der Familie Kholkina eine 77-Quadratmeter-Wohnung nicht zuzumuten,“ sagt das Jobcenter. „Die Kinder haben alle ein Recht auf ihr eigenes Zimmer, das ist aber nicht gegeben.“ Außerdem habe der Vermieter die Nebenkosten viel zu niedrig angesetzt. Das Jobcenter hat nachgerechnet und ordnet die Wohnung über der Mietobergrenze von 845,50 Euro ein. Zusammen sind Miete und Nebenkosten also zu hoch. Dabei sind die Kholkinas auf das Geld vom Jobcenter angewiesen, um die Wohnung und den Umzug bezahlen zu können.
Volodymyr und Nataliia hätten sich ein persönliches Gespräch mit Mitarbeitern des Jobcenters gewünscht. Dass die beiden jüngsten Töchter sich ein Zimmer teilen müssten, sei nicht schlimm. Sie hätten auch in Kiew schon in einem Zimmer gewohnt. Dass sie nicht wissen, ob sie nicht womöglich bald aus ihrer Not-Wohnung in eine Gemeinschaftsunterkunft umziehen müssen, bereitet den Kholkinas Sorge.
Wunsch nach mehr Unabhängigkeit
Das Jobcenter halte einen solchen Umzug für „nicht optimal“. Für diesen Fall sollte eine andere Zwischenlösung her. Wie die aussehen würde, kann das Jobcenter nicht sagen. Das Risiko, dass die Familie bald ihre Unterkunft verlassen muss, schätzt es als nicht sehr hoch ein. Auszuschließen sei es aber nicht.
Nachdem das Jobcenter die erste Wohnung abgelehnt hatte, dauerte es dreieinhalb Monate, bis die Kholkinas auf ein neues Mietangebot stießen. Erst durch einen Artikel über die Familie in den Kieler Nachrichten wurden sie fündig. Ein „nettes Ehepaar“ bietet ihnen eine Wohnung an. Momentan ist die ihr einziges Angebot. „Für das Geld, das wir vom Jobcenter bekommen und innerhalb der Richtlinien, ist es schwer etwas Passendes zu finden“, sagt Volodymyr.
Familie Kholkina hofft, dass der Umzug nun gelingt. Die neue Wohnung sei riesig. Bei vier Zimmern bekommen alle Töchter ihr eigenes. Eltern und Kinder wünschen sich einen beständigen Alltag. Für mehr Sicherheit sei eine feste Wohnung sehr wichtig.
„Wir wollen mehr Unabhängigkeit,“ sagt Volodymyr. Die ganze Familie belegt Sprachkurse. Bessere Deutschkenntnisse sollen Volodymyr und Nataliia ermöglichen, mehr Auswahl auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Dann werden die Kholkinas auch weniger abhängig vom Jobcenter sein. „Wir möchten selbst entscheiden können“, sagt Volodymyr. „Zurzeit fühlt es sich an, als ob unser Leben nicht uns gehört.“
Der neue Umzugsantrag ist bereits gestellt, die erste Rückmeldung dazu: Die Heizkosten müssen getrennt aufgeführt werden. Bitte korrigieren und noch mal einreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe