Vertreibung von Obdachlosen in Hamburg: Zu Hause unter der Brücke
Der Bezirk Mitte will Obdachlose von der Helgoländer Allee vertreiben. Viele von ihnen kommen aus Osteuropa und bekommen keine Unterstützung.
„Das ist unser Zuhause! Wo sollen wir denn hin?“, fragt die 32-jährige Angelina. Sie kommt aus Polen, ihre Mitbewohner aus der Slowakei, Tschechien und Tibet. „Ich wünschte, dass ich irgendwann mal eine Wohnung hab’, dann nehm’ich die alle mit.“ Der Bezirk Mitte hat die Obdachlosen Anfang der Woche per Räumungsbescheid aufgefordert, ihre Zelte an der Helgoländer Allee abzubauen.
Ein paar der Bewohner leben hier schon seit vielen Jahren, auch im Winter. Die Bild beschrieb den grünen Winkel kürzlich als „Camping-Meile“, die „ekelhaft und peinlich für unsere Stadt“ sei. Von der Polizei werden die Bewohner regelmäßig aufgefordert, ihre Gaskocher, Matratzen und dicken Decken abzugeben – aus Brandschutzgründen. Dann kommt es oft zu Diskussionen. „Das Zelten in Grünanlagen darf nicht zum Standard werden“, sagt die Bezirksamtssprecherin Sorina Weiland. „Die Einhaltung der Grünanlagenverordnung ist unsere Aufgabe.“
Zelten und nächtliches Lagern in Parks ist demnach verboten. Auch die Siedlung unter der Kersten-Miles-Brücke soll geräumt werden. Wegen der Brandgefahr und häufiger Beschwerden durch Anwohner. „Es muss eine langfristige Lösung gefunden werden“, meint Weiland. Alle Behörden und Institutionen müssten das gemeinsam angehen. Es habe keinen Sinn, „perspektivlos unter einer Brücke zu leben“, findet sie.
Wohnungslose sind Menschen ohne eigene Wohnung. Sie werden in der Regel in öffentlichen Unterkünften, manchmal auch Hotels untergebracht.
Obdachlose sind eine Teilmenge davon, die nicht untergebracht sind. Zurzeit sind nach Auskunft der Sozialbehörde in Hamburg gerundet registriert:
3.300 Wohnungslose, das heißt Deutsche und EU-Ausländer mit Wohnberechtigung,
5.100 Zuwanderer mit Wohnberechtigung, also anerkannte Flüchtlinge,
14.000 Zuwanderer ohne Wohnberechtigung, also Geflüchtete mit unklarem Status; sie wohnen in sogenannten Folgeunterkünften.
Weitere 9.800 Flüchtlinge leben in Erstaufnahmeeinrichtungen.
Das Winternotprogramm bietet 1.000 Plätze für Obdachlose.
Die Fachstellen für Wohnungsnotfälle, die verhindern sollen, dass Menschen in einer öffentlichen Unterbringung oder auf der Straße landen, haben 2014 knapp 1.200 Haushalten Wohnungen vermittelt und 2015 rund 1.400.
Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) hat deutliche Worte für die Straßenbewohner: „Man muss den osteuropäischen Obdachlosen sagen, dass sie hier keine Perspektive auf Arbeit oder Unterbringung haben. Ich will die Menschen ermuntern, in ihre Heimat zurückzukehren.“
Die Räumung der Plätze ist nicht unproblematisch. Oft haben Obdachlose keine andere Möglichkeit, als draußen zu schlafen. Das Pik As, eine zentrale Übernachtungsstätte für Wohnungslose, ist dauernd überlastet. Die Männer werden oft weggeschickt. „Und dann wundert man sich, was die da machen“, sagt Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linken.
Anfang der Woche warf die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) dem rot-grünen Senat eine massive Vernachlässigung der Wohnungs- und Obdachlosen vor. Es fehle der politische Wille zur Verbesserung, gesetzliche Vorgaben würden nicht erfüllt.
In der Stadt gebe es rund 10.500 Wohnungslose, dabei dürfte die Dunkelziffer erheblich sein, berichtet die stellvertretende AGFW-Geschäftsführerin Sandra Berkling. Derzeit lebten rund 2.000 der Wohnungslosen auf der Straße – doppelt so viele wie im Jahr 2009.
Gesetzlich müsse in Deutschland jeder, der wohnungslos ist, öffentlich-rechtlich untergebracht werden, sagt Stephan Nagel vom Diakonischen Werk Hamburg. Seit über einem Jahr werde dies allerdings massiv unterlaufen. Die Versorgung der nach Hamburg Geflüchteten habe gezeigt, dass es möglich ist, in kurzer Zeit viele Menschen unterzubringen. „Auch für Wohnungslose wäre das möglich, wenn der politische Wille da wäre“, sagt Nagel.
„Da gibt es unterschiedliche Auffassungen zwischen den Verbänden und der Verwaltung“, sagt Marcel Schweitzer, Pressesprecher der Sozialbehörde. Flüchtlinge hätten einen Anspruch darauf, öffentlich-rechtlich untergebracht zu werden. Deshalb könnten für sie zur Not auch Unterkünfte nach dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz und neu geschaffenen Ausnahmeregelungen gebaut werden.
Für Zuwanderer aus Ost- und Südosteuropa gelte das nicht. Sie haben in der Regel erst einen Anspruch, nachdem sie eine Zeitlang in Deutschland gearbeitet haben.
Für Notfälle verweist Schweitzer auf das vom 1. November bis zum 31. März laufende Winternotprogramm, in dessen Rahmen jeder nachts ein Obdach finden könne. Das Programm werde zu einem großen Teil von Osteuropäern genutzt, in der Unterkunft am Schaarsteinweg zu 58, in der in der Münzstraße zu 43 Prozent.
„Wir haben das größte Winternotprogramm Deutschlands“, sagt Schweitzer. Zudem habe der Senat die Gesundheitsversorgung von Zuwanderern verbessert und neue Unterbringungsplätze geschaffen.
Angelina sehnt sich unter der Brücke nach einem „stinknormalen Leben“. Ohne Stress, ohne Bezirksamt, ohne Polizei. Ohne dass sie ständig diskutieren muss. „Wir könnten alle arbeiten“, sagt sie. „Wir haben hier Dachdecker, Handwerker, Bauarbeiter, ich bin gelernte Friseurin und Kosmetikerin, hab als Designerin gearbeitet, kann im Büro arbeiten. Ich hatte schon fünf oder sechs Berufe. Hab’dann eine scheiß Zeit durchgemacht und bin auf der Straße gelandet. Das ist eine andere Geschichte.“
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