Versuchte Räumung des Maidan: Sonnenfinsternis in Kiew
Maidan-Aktivisten verhindern die Räumung mit Gewalt. Der mögliche Einmarsch Russlands im Osten des Landes rückt in den Hintergund.
KIEW taz | Völlig außer sich schreit ein olivgrün gekleideter Maidan-Aktivist neben der Kiewer U-Bahn-Station Kreschtschatik auf der Institutskajastraße einen Journalisten an, er solle verschwinden, und schwenkt bedrohlich eine leere Bierflasche. Der Journalist tritt den Rückzug an. Hinter dem olivgrünen Mann steigt schwarzer Rauch auf. Dutzende von Autoreifen und Barrikaden sind zuvor von Maidan-Bewohnern aus Protest gegen die Räumung des Platzes in Brand gesteckt worden.
Der Donnerstag ist einer der heißesten August-Tage in Kiew. Doch auf Kiews Protestmeile, dem Maidan, ist es am Vormittag zeitweise so dunkel wie bei einer Sonnenfinsternis.
Nachdem am frühen Vormittag mit Schnellfeuerwaffen ausgerüstete Angehörige des Bataillons „Kiew1“ und Bedienstete des städtischen Räumungsdienstes Zelte des Maidan abgerissen haben, gehen die Bewohner der Proteststadt zum Gegenangriff über. Sie stecken Autoreifen und Barrikaden in Brand und greifen die uniformierten Angreifer mit Molotowcocktails an. Diese setzen sich mit Tränengas zur Wehr. Gleichzeitig transportieren Sanitäter verletzte Maidan-Aktivisten auf Tragen vom Platz. Erst mit dem Eintreffen von OSZE-Beobachtern eine Stunde später ziehen sich die Uniformierten zurück.
Sofort danach beginnen die Maidan-Aktivisten, die Barrikaden mit Baumstämmen weiter auszubauen. „Ihr seid alle Banditen, geht arbeiten oder in den Donbass zum Kämpfen“, ruft ein Passant einem Maidan-Aktivisten zu. Ein ukrainischer Journalist begrüßt das harte Vorgehen gegen den Maidan. Seinen Informationen zufolge seien in Zelten des Maidan zahlreiche russische Pässe gefunden worden. Ein anderer Passant stellt sich schützend vor den Maidan: „Der Maidan ist unser Herz. Wenn man uns dieses nimmt, ist das ganze Land bald ohne Seele“.
Schneller Rückzug
Der Versuch der Regierung von Petro Poroschenko und Bürgermeister Vitali Klitschko, den Maidan zu räumen und den Kreschtschatik für den Verkehr freizugeben, ist kläglich gescheitert. Wenige Stunden später reicht der Chef des Sicherheitsrates, Andrej Parubij, seinen Rücktritt ein. „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ sagt eine Maidan-Bewohnerin.
Mit der versuchten Räumung des Maidan gerät die Furcht vor einem bevorstehenden Einmarsch russischer Truppen zunächst etwas in den Hintergrund. Unter dem Deckmantel von Friedenstruppen werde Russland in den nächsten Tagen einmarschieren, glaubt ein Großteil der Bevölkerung.
Es ist der blanke Hass, der auf den Gesichtern von Olessja und ihrem Freund Taras zu sehen ist, als sie die Rede des russischen UNO-Botschafters Tschurkin im Fernsehen verfolgen. „Niemals wird die UNO Russland ein Mandat für den Einmarsch geben“, kommentieren sie dessen Rede. Schadenfroh nehmen sie zur Kenntnis, dass Russland in der UNO weitgehend isoliert ist.
Doch es gibt auch andere Stimmen. Viktoria Schilowa, Sprecherin der Organisation „Anti-War“, glaubt nicht, dass Russland an einer Annexion des Donbass interessiert ist. „Die Kampfmoral der ukrainischen Truppen im Donbass ist schon jetzt so geschwächt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Anti-Terror-Operation gegen den Donbass in sich zusammenfällt“, ist die Abgeordnete des Dnepropetrowsker Bezirksrats überzeugt. „Viele Soldaten waren zuvor Maidan-Aktivisten. Und die fragen sich jetzt natürlich, ob es Sinn habe, für eine Regierung zu kämpfen, die den Maidan zerstören will. Warum sollte Russland in so einer Situation an einem Einmarsch interessiert sein?“
Auch auf dem Maidan will man sich zur aktuellen Bedrohung eines russischen Einmarsches nicht so eindeutig äußern. „Wir wissen doch überhaupt nicht, was im Donbass wirklich passiert“, so Alexandra am Stand des NGO Information and Communication Bureau mitten auf dem Maidan. Und wir werden es auch nicht erfahren, solange wir nur zwischen der ukrainischen und der russischen Propaganda wählen können.“
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