Version 2: Vergesst das Zählen!
Schon wieder eine neue Sexumfrage. Doch es gibt ein Dilemma: Die Quantität des Geschlechtsverkehrs sagt nichts über die Intensität des sexuellen Erlebens aus.
Menschen mit einem "unbefriedigenden Sexualleben" stürzen sich häufig in Arbeit und Ehrenämter - diese Meldung rauschte kürzlich durch die Medien. Sie bezog sich auf eine Onlineumfrage von Wissenschaftlern der Universität Göttingen. Etwa ein Drittel der Männer und Frauen, die in einer Beziehung leben und einmal in der Woche oder noch seltener Sex hatten, versuchte sich mit anderen Aktivitäten abzulenken, hieß es. Da haben wirs: Wer im Büro auch noch abends am Bildschirm klebt oder im Tennisverein die Weihnachtsfeier organisiert, ist in Wirklichkeit ein bedauernswerter Sexklemmi! Aber liegen die Dinge wirklich so einfach?
Jedes sechste Paar hatte innerhalb von vier Wochen Befragungszeitraum überhaupt keinen Sex, verlautete aus einer früheren Studie der Göttinger Wissenschaftler. Die Nachricht ist aber nicht traurig, wie man meinen mag, sondern schenkt vielen Paaren göttliche Entlastung. "Dem Himmel sei Dank, ich bin nicht allein", mögen sich jene denken, die auch keine hohe Sexfrequenz vorweisen können, aber eigentlich ganz glücklich sind mit ihrer Partnerschaft. Und sagen Zahlen nicht ohnehin wenig aus über die Intensität des sexuellen Erlebens?
"Es kommt nicht auf die Quantität an, sondern auf die Qualität", betont der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch. "Ein erregendes und befriedigendes Erlebnis kann der oder dem, die oder der das Glück hatte, seelische Ruhe für viele Monate oder Jahre bereiten."
Klasse statt Masse: Auf diesem Prinzip beruht immerhin fast die gesamte Weltliteratur der Liebe, bei der das romantische Beben und gerade die Seltenheit des Geschlechtsverkehrs die Geschichte zum Schwingen bringen. Die modernste Version des niedrigfrequenten, aber trotzdem erlebnisstarken Sexlebens stellt die Fernbeziehung dar. Also Liebende, die wegen unterschiedlicher Arbeitsorte oder anderer bedauerlicher Umstände zumeist getrennt sind und sich nur an manchen Wochenenden ganz nahe kommen. Auch sie erreichen vielleicht nur eine Sexfrequenz von zehnmal pro Jahr. Aber welch energetischer Austausch kann dahinterstecken!
Bei der Gleichung "Mehr Sex ist gleich mehr Lebensglück" winkt auch die deutsche Vereinigung der sogenannten Asexuellen, Aven, nur gelangweilt ab. "Es gibt keine Messtechnik für sexuelle Leistungen", sagt Aven-Sprecher Maurice Koester. Die selbsterklärten Asexuellen erleben durchaus romantische Gefühle, schlafen mitunter auch mit ihrem Partner, weil dieser es wünscht, haben aber selbst kein eigenes Interesse am Geschlechtsverkehr als solchem. Und wollen deshalb nicht als abartig dastehen.
Eine Ursprungs-Meldung - drei darauf aufbauende Texte. Die taz wollte wissen, welche Herangehensweise ihre Leserinnen und Leser haben möchten - und zwar beim Thema Sex. Die kritisch-kommentierende Version? Den spielerisch-schrägen Weg? Oder die nüchterne wissenschaftsjournalistische Variante? Für die Sonderausgabe der tageszeitung am Wochende 15./16. September 2007 zur "Zeitung der Zukunft" machte taz.de die Probe aufs Exempel. Sie hatten zwei Tage lang die Wahl.
Das Ergebnis:
1007 Leserinnen und Leser haben abgestimmt.
43 Prozent (431) stimmten für die Version 2, die kritisch kommentierende Version,
41 Prozent (416) stimmten für die Version 1, also die nüchterne wissenschaftsjournalistische Variante,
16 Prozent (160) schließlich für die spielerisch-schräge Version 3.
So weit wie die Asexuellen muss man nicht gehen. Aber immer schon war das Verborgene, Verbotene, das nicht Normgerechte interessanter als umfragekompatibler Sex - also Schluss mit dem Zahlenterror.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!