Verschüttete Bergleute in Chile: Der unerhörte Gewerkschaftssekretär
Elf Jahre lang warnte der Bergmann Javier Castillo vor einer Katastrophe in der chilenischen Kupfermine San José - vergeblich. Die Profitgier der Minenbetreiber war stärker.
Nein, ein gutes Foto von sich hat er nicht, sagt Javier Castillo. "Muss das wirklich sein?", fragt er zweimal. Ein paar Stunden später hat er doch eins aufgetrieben. Der Schnappschuss aus der Atacamawüste ist einen Monat alt. Da waren die 33 Kumpel vom Kupfer- und Goldbergwerk San José, deren Drama Millionen in Chile und auf der ganzen Welt bewegt, gerade fünf Tage verschüttet. Ob sie überlebt hatten, war damals noch ungewiss.
Castillo ist zusammen mit seinem Sohn Víctor im Kreis seiner Kollegen zu sehen. Gekommen sind sie zu einem Bittgottesdienst am Grubeneingang. Dort haben die Angehörigen der Verunglückten das Camp Esperanza (Hoffnung) aufgeschlagen. Ihr banges Warten sollte noch zwölf weitere, schier endlose Tage und Nächte anhalten.
Am 22. August ist es so weit. Die Verbindung zu den Bergleuten ist hergestellt. In exakt 688 Meter Tiefe haben sie ausgeharrt. "Wir 33 sind wohlauf im Schutzraum", steht auf einem kleinen Zettel, den das Suchkommando durch ein elf Zentimeter schmales Rohr nach oben zieht.
Javier Castillo, 42, ist Gewerkschaftssekretär in der Aktiengesellschaft Compañía Minera San Esteban.
Der zeitweise Stopp aller Bohrarbeiten für die Rettungsschächte löste Proteste bei den 33 eingeschlossenen Kumpels der Kupfermine aus. Die Männer können die Bohrgeräusche inzwischen hören und merken deshalb, wenn die Maschinen stehen. Aller Voraussicht nach können die Rettungsarbeiten bis November dauern.
In der Nacht hatte der Bohrer Strata 950, der wegen Wartungsarbeiten angehalten worden war, die Arbeit wieder aufgenommen. Er war vor zwei Wochen in Betrieb genommen worden und ist bisher in mehr als 200 Meter Tiefe vorgedrungen. Ein zweiter Bohrer vom Typ Schramm T-130 ist seit Tagen lahmgelegt, weil ein Teil des Bohrkopfes abgebrochen ist und sich im Bohrloch verkeilt hat. Ein dritter Bohrer soll in knapp zwei Wochen einsatzbereit sein.
Damit die Kumpel unter Tage fit bleiben, werden sie künftig unter Anleitung eines Trainingsberaters eine Stunde pro Tag Sport treiben. Der Trainer werde sie per Videokonferenz unterrichten. (dpa)
Javier Castillo erinnert sich: "Stundenlang hat man die Bekanntgabe der Nachricht hinausgezögert, um dem Präsidenten einen großen Liveauftritt zu sichern." Der Milliardär Sebastián Piñera, der Anfang des Jahres als Kandidat der Rechtspartei Nationale Erneuerung zum Präsidenten gewählt worden war, konnte erst nachmittags aus der 800 Kilometer weiter südlich gelegenen Hauptstadt Santiago einfliegen.
Tags darauf sprach er über Walkie-Talkie mit einem der Bergmänner. Piñeras Konzept ist aufgegangen: Durch das, was die chilenischen Medien meist als "Wunder" bezeichnen, soll seine Popularität innerhalb von Anfang August bis Anfang September von 41 auf 53 Prozent gestiegen sein.
Javier Castillo ist Gewerkschaftssekretär in der Aktiengesellschaft Compañía Minera San Esteban. Zu dieser Firma gehören seit Mitte der Achtzigerjahre die Mine San José und die Nachbarmine San Antonio. Er ist auch Provinzchef der landesweit führenden Einheitsgewerkschaft CUT in Capiapó.
Im Jahr 1985 arbeitete er erstmals zusammen mit seinem Vater in Kleinstminen der Region. Vier Jahre später war er Bohrungsspezialist, sammelte danach Erfahrungen in mehreren Unternehmen und stieß 1996 schließlich zu San Esteban. Was er dort erlebte, ließ ihn zum aktiven Gewerkschafter werden. Damals sei Firmengründer Georges Kemeny von seinen Söhnen dazu gedrängt worden, die Produktionsweise umzustellen, sagt Castillo: "Doch die hatten vom Bergbau keine Ahnung und wollten nur mit modernen Maschinen die Produktion erhöhen. Als Chef der Bohrtruppe bekam ich für die Wartung der Geräte gerade einmal ein Zehntel der nötigen Mittel."
Auch die kaum ausgebildeten Bergleute waren mit der Umstellung überfordert. Im Jahr 1999 begannen sie, die Trennwände zwischen den Stollen abzutragen, um daraus Kupfer und ein wenig Gold herauszuwaschen. Statt ursprünglich 30 Meter sind heute viele nur noch zehn Meter dick. Bei ungenügender Absicherung drückt die Felsenmasse immer stärker auf die Stollen, bis es zu Einstürzen kommt.
Im Jahr 2001 verlor ein Kumpel ein Bein, ein Jahr darauf noch einer. "Immer wieder haben wir bei der Firma und den staatlichen Aufsichtsbehörden protestiert, vergeblich", erzählt Castillo mit ruhiger Stimme. "2003 gab es einen Rieseneinsturz in der Mine San Antonio, aber zum Glück haben wir unsere Kollegen unter Erde noch rechtzeitig warnen können."
Nach dem ersten tödlichen Unfall riefen die Gewerkschafter 2004 die Gerichte an und beantragten die Schließung von San José. Zunächst mit Erfolg. Doch von der nächsten Instanz wurde die Schließung wieder auf gehoben. Nach dem dritten Toten kam es 2007 zu einem weiteren Förderstopp, doch der hielt nur ein gutes Jahr. Castillos Fazit: "Das Justizsystem taugt für uns nicht."
Für die Malaise macht er die neoliberale Öffnung Chiles verantwortlich, die in den Siebzigerjahren unter dem Militärregime von Augusto Pinochet eingeleitet wurde. Seit 1990 wurde sie von Christ- und Sozialdemokraten fortgesetzt, seit März 2010 forciert sie der Milliardär Piñera. In den nun flugs gegründeten Reformkommissionen sitzen keine Gewerkschafter.
"Nennenswerte Abgaben, Steuern oder strenge Sicherheitsvorschriften wie in Kanada oder Australien, das gibt es hier nicht. Hier steht alles unter der unternehmerfreundlichen Logik der Pinochet-Verfassung von 1980", sagt Castillo. Dort sei von "Arbeitsfreiheit" statt vom "Recht auf Arbeit" die Rede: "Das bedeutet, wenn dir die Sicherheitsbedingungen nicht passen, bist du frei, dir einen anderen Job zu suchen."
Die Arbeit der Gewerkschaften werde behindert - auch von der Firma San Esteban. "Selbst heute noch erschwert man mit bürokratischen Schikanen den Zutritt zum Camp", sagt Castillo. Von den 33 Verschütteten seien zwölf organisiert. Insgesamt arbeiteten bis zum Unfall in der Mine 150 Festangestellte dort, 75 davon sind in der Gewerkschaft - "aber die meisten erst seit Juli, nachdem unserem Kollegen Gino Cortés das Bein amputiert werden musste".
Zwei Tage vor diesem Unfall war Castillo mit Piñeras Bergbauminister Laurence Golborne zusammengekommen. "Damals habe ich ihn auf die katastrophalen Sicherheitsbedingungen in San José hingewiesen. Seit Jahren forderten wir, dass ein Notausgang angelegt wird", erzählt er. "Aber der hat das abgetan und gesagt, dass die oberste Priorität Arbeitsplätze sind."
Die Aufsichtsbehörden sind hoffnungslos überlastet, landesweit verunglückten im letzten Jahrzehnt mindestens 373 Bergleute tödlich.
Die Kemenys hofften bislang, dass San José trotz seines vergleichsweise niedrigen Kupfer- und Goldgehalts noch weitere 40 Jahre lang lukrativ sein könnte - die Kupferpreise stiegen, allein 2009 um 216 Prozent. Die Löhne hingegen sind angesichts der Knochenarbeit niedrig. Rund 1.000 Dollar im Monat verdient ein Kumpel im Schnitt, halb so viel wie in den modernen Riesenminen der Multis. Dorthin zieht es die Facharbeiter im besten Alter. Die hochgefährdeten "Handwerker" der Mittel- oder Kleinminen sind hingegen jung oder Senioren über 50, wie die 33 Verschütteten.
Das war nicht immer so. Castillos Vater konnte noch dank eines Gesetzes des Sozialisten Salvador Allende aus den frühen Siebzigern wegen Schwerstarbeit mit 50 in Rente gehen. Auch er war Gewerkschafter, doch während der Diktatur hielt die Familie den jungen Javier von der Politik fern. "Die Angst war unbeschreiblich", sagt er, "mir wurden erst mit 29 Jahren die Augen geöffnet." Als er sich schließlich der KP anschloss, eröffnete ihm sein Großvater, dass auch er als junger Mann Kommunist war.
"Bei uns liegt das anscheinend im Blut", meint Javier Castillo nur halb im Spaß. Gewerkschaftskollege Luis Corrotea lobt die Ehrlichkeit und das pädagogische Geschick des dreifachen Vaters, "er spielt gerne Gitarre und singt dazu". Sein 15-jährige Sohn Víctor will weder Gewerkschafter noch Bergmann werden, sondern Rockmusiker. "Nicht so mein Geschmack", lacht Javier Castillo.
Dann kommt er gleich wieder auf die Politik zu sprechen, erzählt von der "roten Hochburg" Copiapó, wo sein Parteifreund Lautaro Carmona dank eines seltenen Wahlbündnisses mit Christ- und Sozialdemokraten bei der letzten Parlamentswahl eines der insgesamt drei Direktmandate für die Kommunisten holte.
Lauter wird seine Stimme nur einmal: Als er die, wie er es nennt, "Verwaltung der Information" durch Regierung und Firmenbesitzer schildert. Das Drama in der Wüste nutze die Regierung auch, um von Negativnachrichten abzulenken, etwa vom mittlerweile neunwöchigen Hungerstreik der Mapuche-Aktivisten in Südchile.
Dabei kann Strahlemann Piñera, der erst vor Wochen seinen TV-Kanal Chilevisión verkaufte, auf die tatkräftige Hilfe der meisten Medien zählen. Chiles Presselandschaft gehört zu den einförmigsten in ganz Südamerika. "Aber bei den ausländischen Medien klappt es ganz gut", freut sich Castillo. Was er zu berichten hat, findet auch bei anderen Gehör. Mittlerweile gibt er auch CNN, Telesur, dem französischen Fernsehen oder Radio Nederlands Interviews.
In Chile hingegen geht es fast nur um das menschliche Drama der Verschütteten und ihrer Verwandten. Damit ignorierten die Medien "den politischen Kern des Problems", sagt Castillo, nämlich "die mangelhafte Sicherheitsgesetzgebung". Die Minengewerkschafter hoffen jetzt auf internationalen Druck, der die Kupfergroßmacht zur Ratifizierung der ILO-Konvention 176 über die Sicherheit im Bergbau zwingen soll.
Gegenüber der UN-Arbeitsorganisation verpflichten sich die Beitrittsstaaten, ihre Gesetzgebung entsprechend zu verschärfen und auch durchzusetzen. Arbeiter könnten bei Verstößen streiken, ohne deswegen Kündigungen zu befürchten. "Sogar Peru hat die Konvention schon ratifiziert", sagt Castillo. "Vielleicht haben wir ja jetzt eine Chance."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!