Verschönerung von unten: Istanbul, die neue Regenbogenstadt
Ein Rentner streicht eine triste Treppe an. Die AKP lässt sie wieder grau überpinseln. Ein fataler Fehler, denn nun gibt es mehr bunte Steigen denn je.
ISTANBUL taz | Vor wenigen Tagen konnten die Istanbuler Frühaufsteher auf dem Weg zur Arbeit eine neue Attraktion in ihrer Stadt bewundern. Wo vorher von der Uferstraße am Bosporus eine triste große Betontreppe Richtung Taksimplatz den Hügel hinauf führte, erstrahlte plötzlich ein Kunstwerk in allen Farben des Regenbogens. Aus einer grauen Treppe war ein absoluter Hingucker geworden, die Leute freuten sich, das Netz war voll davon.
Nur einer war offenbar anderer Meinung. Der Bezirksbürgermeister von Beyoglu, Misbah Demircan, ein treuer Gefolgsmann von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und während der Proteste um den Gezi-Park immer an der Seite der Regierung, befürchtete offenbar, die Treppenmalaktion sei eine Provokation der durch die Gezi-Bewegung erstarkten Schwulen- und Lesbenszene und ließ die Treppe in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wieder in tristes Grau zurückverwandeln.
Doch Misbah Demircan traf eine der größten Fehlentscheidungen seiner Karriere. Als die Bilder der wieder überpinselten Treppe im Netz kursierten, gab es einen heftigen Aufschrei. Doch nicht genug damit, schnell stellte sich heraus, dass die Urheber der Regenbogenaktion ganz und gar nichts mit der Homobewegung zu tun hatten.
Ein pensionierter Ingenieur aus der Nachbarschaft, den, wie er gegenüber verschiedenen Zeitungen erzählte, die graue Treppe schon lange gestört hatte, war losgegangen, hatte für 700 Euro Farbe gekauft und zusammen mit seinem Schwiegersohn die Stufen nach und nach angemalt.
Bunt für den internationalen Friedenstag
Jetzt schlug die Empörung erst recht hohe Wellen. Für den Samstagnachmittag riefen mehrere Bürgervereinigungen und Aktionsbündnisse, darunter natürlich auch die Schwulen- und Lesbenbewegung, dazu auf, mit Farbe und Pinsel zur Treppe zu kommen, um sie wieder in den Farben des Regenbogens anzumalen.
Plötzlich bekam es Misbah Demircan, der bei den Kommunalwahlen im Frühjahr nächsten Jahres schließlich wiedergewählt werden will, mit der Angst zu tun. Schnell schickte er in der Nacht seine Leute los, um selbst den Regenbogen wieder auf die Treppe zu zaubern.
Doch auch mit seiner zweiten Nacht-und-Nebel-Aktion konnte der Bürgermeister von Beyoglu, dem Bezirk, zu dem auch der Taksimplatz und der Gezi-Park gehören, die Bewegung nicht mehr stoppen. Als die Leute am Samstagmorgen feststellten, dass die Treppe bereits wieder bunt leuchtete, nahmen sie sich einfach andere, vergleichbare Treppen in der Umgebung vor.
Und die Regenbogenbewegung blieb nicht auf die Treppen, die vom Bosporus zum Taksimplatz führen, beschränkt. In der ganzen Stadt wurden am Wochenende zum Zeichen des Protests gegen die engstirnige islamische AKP-Regierung in Istanbul vormals graue Treppen in den Farben des Regenbogens bepinselt.
Zum internationalen Friedenstag am Sonntag leuchtete Istanbul an allen Ecken. Die Gezi-Bewegung hatte zu einer Menschenkette entlang des Bosporus und des Marmarameers aufgerufen, um die Regierung daran zu erinnern, dass die Sommerpause nun vorbei ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?