Verschmutztes Mittelmeer: In den Abfluss, aus dem Sinn?
Ständig fließen Chemikalien ins Abwasser – und von dort aus auch ins Meer. Wie stark das Mittelmeer betroffen ist und welche Lösungen es gibt.
In den Details dieser Erzählung versteckt sich eine Gefahr. Denn Regenjacken, Vorhang, Feuerlöscher, Bootslackierung und Sonnencreme können etwas gemeinsam haben: Persistente, also langlebige Substanzen, die als Brandverzögerer, Schmutz- und Wasserabweiser und Weichmacher in Plastikprodukten wirken. Ralf Ebinghaus, Leiter des Instituts für Umweltchemie des Küstenraums am Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht erklärt ihre Beliebtheit so: „Wer möchte nicht eine wasserdichte, schmutzabweisende, aber gleichzeitig atmungsaktive Outdoor-Jacke haben?“ Im Material ist Persistenz, also Langlebigkeit, wünschenswert, damit der Regen nicht durch die Jacke und der Kaffee nicht durch den Becher weicht. Aber Persistenz in der Umwelt ist lästig und gefährlich.
Die einzelnen Elemente des Periodensystems verbinden sich unendlich vielfältig miteinander. Für bestimmte Funktionen erfinden Menschen langlebige Verbindungen. Mit der Zeit waschen sich diese aus und fließen – ungeklärt oder geklärt – in Flüsse und von dort ins Meer. Laut der großen Studiensammlung World Ocean Review stammen 80 Prozent aller Schadstoffeinträge aus Landquellen wie aus Kläranlagen und der Landwirtschaft. Den Rest verursachen zum Beispiel die Schifffahrt oder die Fischerei.
Die schädlichen Stoffe verhalten sich unterschiedlich. Einige lassen sich nicht gern vom Boden oder Sedimenten zurückhalten, sie treiben im Wasser. Das heißt, sie sind mobil. Außerdem sind manche für Mensch oder Tier krebserregend, also toxisch. Sie heißen abgekürzt PMT (englisch für langlebig, mobil, toxisch) oder vPvM (englisch für sehr langlebig und sehr mobil).
Am Ende auf dem Restaurantteller
Andere Substanzen sind weniger mobil. Sie verteilen sich vor allem über die Luft, aber können auch im Wasser landen und sich dort über die Nahrung oder die Haut in Gewebe und Organen von Tieren ablagern. Diese Stoffe heißen POPs (englisch für langlebige, organische Schadstoffe). Einige POPs werden allerdings auch als PMT oder vPvM klassifiziert, die Kategorien überlappen sich. Sie sind komplexe Verbindungen zwischen Kohlenstoff und meist Chlor, Brom oder Fluor, welche unter anderem als Insektizid oder als Wärmeträgerflüssigkeiten in Maschinen eingesetzt werden. Je mehr ein Tier am Ende der Nahrungskette steht, desto stärker sammeln sich diese Substanzen in seinem Körper an. Und landen danach möglicherweise auf einem Restaurantteller.
Oder die Tiere stranden, zum Beispiel an den italienischen Küsten des Pelagos-Schutzgebietes. Die direkte Todesursache der Großen Tümmler in der Region ist laut einer Studie zwar nicht, dass sich Bootslackierungen aus- oder Sonnencremes abwaschen. Sondern Parasitenbefall, eine Schiffskollision oder Verletzungen und Krankheit dadurch, als Beifang gefischt worden zu sein. Die Konsequenzen sind langfristig. Einige Stoffe beeinflussen das Immunsystem oder die Fortpflanzung negativ.
Auch die untersuchten Delfinkörper sind stark belastet, beispielsweise mit Abbauprodukten des Insektizids DDT. Weitere Verbindungen, die weltweit verboten sind, sind polychlorierte Biphenyle (PCB). Das sind giftige Chlorverbindungen, die zum Beispiel bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts als Weichmacher in Lacken verwendet wurden.
Alle 21 untersuchten Großen Tümmler weisen laut der Studie mehr als den Schwellenwert für PCB-bedingte gesundheitliche Schäden von 17 Milligramm pro Kilo Körperfett auf. Noch heute kann die Industrie PCB als Nebenprodukt entstehen lassen und freisetzen. Die Funde stellten „die Ausweisung des Walschutzgebiets und damit eines Gebiets, das zu ihrem Schutz geschaffen wurde, in Frage“, schreiben die Forscher*innen in ihrer Studie aus dem vergangenen April.
Weibliche Delfine mit weniger Schadstoffen
Verschiedene Untersuchungen greifen den Aspekt auf, dass das Gewebe weiblicher Delfine meist weniger Schadstoffe enthält, weil sie diese während der Schwangerschaft oder durch das Säugen an ihren Nachwuchs übertragen. Männliche Artgenossen hingegen häufen ein Leben lang Schadstoffe im Körper an.
In einer weiteren Studie aus dem Jahr 2023 analysieren Forscher*innen gestrandete Meeressäuger an Spaniens Mittelmeerküste. Sie äußern wenig Zuversicht: Die „ständige Entwicklung neuer Chemikalien“ mache „wenig Hoffnung auf eine kurz- und mittelfristige Beseitigung der chemischen Verschmutzung als Risiko für die Meeresfauna.“
Laut dem von Expert*innen zusammengetragenen Ersten Sachstandsbericht für den Mittelmeerraum von 2020 werden „neu auftretende Schadstoffe im gesamten Mittelmeerbecken weit verbreitet und durch den zunehmenden Zufluss unbehandelter Abwässer noch weiter verstärkt.“ Auch auf Menschen wirken die langlebigen, organischen Schadstoffe. Die WHO zählt – je nach Stoff – unter anderem ein erhöhtes Krebsrisiko, neurologische oder genetische Schäden auf.
Zahlreiche internationale Abkommen und Konventionen geben zwar vor, wer was wie wo abladen darf oder vermeiden muss – gegen die Verschmutzung und für den Naturschutz. Es gibt immer wieder neue Empfehlungen, welche langlebigen Verschmutzer als nächstes verboten werden sollen. Diese können die über 180 Mitgliedsstaaten des Stockholmer Übereinkommens vorschlagen. Die Konvention gilt in den meisten Ländern seit 2004 und listet mittlerweile fast 30 Schadstoffe. Diese sollen damit aus dem Verkehr gezogen, in Produktion und Verwendung eingeschränkt oder als Nebenprodukt in der Industrie vermieden werden.
Schlechtes wird durch fast genauso Schlechtes ersetzt
Dennoch verschmutzen weiterhin viele Altlasten die Welt, also vor Monaten, Jahren und Jahrzehnten freigesetzte Schadstoffe. Und mit ihnen auch die Ersatzstoffe für bereits verbotene Substanzen. „Wenn wir einen mobilen und persistenten Stoff durch einen anderen ersetzen, führt das wahrscheinlich zu ‚regrettable substitution‘. Also dass wir etwas Schlechtes mit etwas fast genauso Schlechtem ersetzen, das auch noch weniger wissenschaftlich untersucht ist“, sagt Sarah Hale, Projektleiterin von ZeroPM. Dieses Projekt soll durch „Prävention, Priorisierung und Beseitigung“ schädlicher Substanzen einen Teil zur „Zero Pollution“-Strategie des Green Deal der EU-Kommission beitragen.
Ralf Ebinghaus vom Institut für Umweltchemie äußert einen weiteren Aspekt, der mit dem Klimawandel zusammenhängt: Das Schmelzen der Polkappen setze im Eis eingeschlossene, daher unveränderte Schadstoffe vielfach frei. Diese würden erst dann anfangen, sich abzubauen – und das dauert lange.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 produzieren und verwenden diverse Akteur*innen weltweit mehr als 350.000 Chemikalien und -Mischungen. Mehr Durchblick dabei schaffen will das Team des EU-Forschungsprojekts ZeroPM. Sie hantieren mit einer bestimmten Gruppe von Chemikalien, den per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS). Unter anderem die Textil- und Papierverpackungsindustrie setzen sie ein. Wahrscheinlich weilen sie durch ihre dichthaltende, wasser- und fettabweisende Funktion auch im Feuerlöscher auf dem Segelkatamaran. Sie reichern sich im Nahrungsnetz an und schädigen die Gesundheit – unterschiedliche Geschlechter in anderen Maßen.
Unter anderem durch schlechtes Müllmanagement und den Alltag von Einheimischen und Tourist*innen verschmutzen PFAS das Grundwasser, wie zum Beispiel in Rastatt in Baden-Württemberg. In einer Kläranlage testet ZeroPM mit den dortigen Stadtwerken verschiedene Filter- und Ad- und Desorptionstechniken, um die PFAS loszuwerden. Eine weitere Anlage installiert ZeroPM am Mittelmeer, im griechischen Mytilini auf Lesbos. Damit wollen sie die Grundwasser- und Meeresverschmutzung lokal aufhalten.
Aber: Technische Beseitigungsmethoden seien nicht immer wirksam. „Am nachhaltigsten ist, den Schadstoff gar nicht erst zu produzieren oder zu emittieren“, betont ZeroPM-Projektleiter Hans Peter Arp. „Wenn Substanzen im Meer akkumulieren, ist es zu spät. Daher sind Eliminierungsmethoden die letzte Wahl und der Prävention immer unterlegen.“
Dieser Text entstand im Rahmen eines Recherchestipendiums der Okeanos Stiftung für das Meer.
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