Verschickungskinder beim Roten Kreuz: Wer weint, wird eingesperrt
Schleswig-Holsteins Rotes Kreuz ließ Misshandlung von Verschickungskindern erforschen. In den Heimen gab es vor allem psychische Gewalt.
Diese Gewalt sei eine Folge der hierarchischen und zweckfixierten Organisation der Heime, urteilt die Studienautorin Leoni Umlauft. „Die Intention hinter den Kindererholungen und Kinderkuren war eine gute“, sagt sie. „In der Umsetzung wurden jedoch die kindlichen Bedürfnisse oftmals komplett missachtet.“
Etwa acht Millionen Kinder wurden in der Nachkriegszeit im Zuge dieser Programme kreuz und quer durch die Bundesrepublik „verschickt“. Ziel war es, den Gesundheitszustand der Kinder zu verbessern. Dass viele Kinder bei diesen Kuren misshandelt wurden, ist erst seit wenigen Jahren ein öffentliches Thema. Vorangetrieben wird es von der „Initiative Verschickungskinder“, die die Publizistin Anja Röhl als Betroffene gemeinsam mit anderen Verschickungskindern gegründet hat.
Das Archiv schweigt
Umlaufts Studie entstand als Masterarbeit an der Uni Kiel im Auftrag des DRK-Landesverbandes. Für ihre Studie sichtete Umlauft die Archive des Landes, der Landkreise und des DRK – insgesamt 4.300 Seiten. Außerdem führte sie fünf Interviews mit Betroffenen.
Dabei erwies sich die Archivrecherche zwar als wertvoll, um die Rahmenbedingungen und Strukturen der Kinderverschickung zu erforschen. Über den tatsächlichen Umgang mit den Kindern gaben allerdings erst die Interviews Auskunft. „Die Archivbestände konnten keine Ergebnisse zu dokumentierten Gewaltakten liefern“, schreibt Umlauft.
Der DRK Landesverband betrieb laut den Archiven über Jahrzehnte hinweg zwei Kindererholungsheime, DRK-Kreisverbände verantworteten drei weitere Heime. Gedacht waren sie zunächst für die Kinder gefallener oder schwer versehrter Soldaten, aber auch für Kinder aus der Frontstadt West-Berlin. Dazu kamen Kinder aus benachteiligten Familien oder mit einem schlechten Gesundheitszustand: Untergewicht, Asthma, Rachitis.
Umlauft stellt fest, dass die DRK-Heime in ein großes Netz von Akteuren eingebunden waren. Geld gab es aus Sozialhilfetöpfen, der Kriegshinterbliebenen- und -beschädigtenfürsorge sowie von den Sozialversicherungen. Das Sozialministerium sowie die Jugend- und Gesundheitsämter führten die Aufsicht. Die Bundesbahn und die Kinderfahrtmeldestelle Schleswig-Holstein organisierten und beaufsichtigen die Transporte, bei denen Mitte der 1950er-Jahre zwei Kinder ums Leben kamen.
In den Heimen arbeiteten mit Ausnahme der Ärzte fast ausschließlich Frauen. Umflaufts Interviewpartner berichten von einer starken Hierarchie. „Strenge, Gehorsam und ein distanziertes Verhältnis zu den Kindern durchzog die Heimstrukturen und -handlungen“, schreibt Umlauft. Das unter der Heimleitung arbeitende Personal sei überwiegend jung und meist freundlich, aber eben eingebunden gewesen. „Ich glaube, die standen genauso wie wir Kinder unter diesem, wie soll ich das sagen, so ein, so ein (sic) Befehlsdruck der Heimleitung“, sagte ein Interviewpartner.
Gefühl des Ausgeliefertseins
Letztlich seien die Bedürfnisse der Kinder dem Organisationszweck der Erholung und des Gesundwerdens untergeordnet worden, stellt Umlauft fest. Ein Beispiel dafür ist das wöchentliche Wiegen, bei dem die Kinder strammstehen mussten und mit Repressalien bedroht wurden, sollten sie nicht zunehmen.
Kinder, die weinten, wurden eingesperrt. Zwölf- bis 14-Jährige, die sich nachts noch in die Hose machten, wurden gedemütigt und im Schlafsaal gab es regelmäßig Kontrollgänge: Wer nicht mit dem Kopf zur Wand lag, ergo nicht sprechen konnte, musste aufstehen und sich in die Ecke stellen. Körperliche Züchtigung war verboten.
Durch die Interviews ziehe sich „ein Gefühl des Ausgeliefertseins“, schreibt Umlauft. Alles sei angeordnet und befohlen worden, sagte ein Interviewpartner. Dabei hätten die Kinder keine Möglichkeit gehabt, sich Hilfe zu holen. Briefe nach Hause mussten offen gelassen werden und wurden ebenso zensiert wie Postkarten.
„Aus unserer Sicht markiert diese Studie einen wichtigen Schritt in der Aufarbeitung der Kindererholung“, sagte die Vorstandssprecherin des DRK-Landesverbandes, Anette Langner. Sie trage dazu bei, das Bewusstsein für die erlebte Gewalt zu schärfen und weitere Forschungen anzustoßen.
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