Versammlungsfreiheit in Berlin: Groß-Demos bald wieder erlaubt
Nach dem unübersichtlichen Demo-Wochenende wollen die rot-rot-grünen Fraktionen die Versammlungsfreiheit wiederherstellen.
Die am Montag zur Abstimmung kommende Beschlussempfehlung liegt der taz vor. Darin wird für ein uneingeschränktes Demonstrationsrecht unter freiem Himmel plädiert unter zwei Bedingungen: Zum einen soll zwischen Teilnehmer:innen weiterhin 1,5 Meter Abstand gehalten werden; zum anderen müssen Veranstalter:innen ein Hygienekonzept vorlegen.
Der Beschluss ist ein Signal an den Senat, sich den Lockerungen anderer Länder anzuschließen und diese schneller zu beschließen. Die Empfehlung umfasst neben dem Versammlungsrecht auch das Recht auf uneingeschränkte Religionsausübung – wenn die räumlichen Bedingungen auch hier die Einhaltung von Hygieneregeln zulassen.
Vor allem das vergangene unübersichtliche Demo-Wochenende mit laut Polizei 19 angemeldeten Versammlungen und 7 spontanen Zusammenkünften dürfte der Forderung der rot-rot-grünen Parlamentarier:innen Nachdruck verleihen. Während bei einer Vielzahl friedlicher Proteste die Abstandsregeln und Teilnehmer:innen-Begrenzungen, so gut es ging, eingehalten und diese dennoch von der Polizei gemaßregelt wurden, richteten sich rechtsoffene Menschenansammlungen mit deutlich mehr Teilnehmer:innen vor dem Reichstag und dem Brandenburger Tor kein bisschen danach.
Viel Kritik an der Polizei
Darüber hinaus konterkarierte die Polizei selbst Infektionsschutzmaßnahmen, wenn sich etwa am Alexanderplatz Shopping-Publikum und Demonstrant:innen durch viel zu enge Durchgänge quetschen mussten, weil die Einsatzkräfte den restlichen Platz vergattert hatten. Mindesabstand war so jenseits der Demo-Bereiche kaum zu verwirklichen.
June Tomiak von den Grünen, die als parlamentarische Beobachterin den ganzen Samstag mit dem Fahrrad unterwegs war, erkannte bei der Polizei zweierlei Maß, wenn sich auf Kundgebungen mehr als 50 Menschen aufhielten: „Beim antifaschistischen Protest im Schendelpark gab es alle paar Minuten eine Durchsage der Polizei. An der Reichstagswiese wurde das nicht so gemacht. Das war problematisch.“
Am Schendelpark wollten nach ihrer Beobachtung viele Leuten unter Achtung eines Mindestabstands den Reden lauschen, nur seien dafür die örtlichen Voraussetzungen in der Nähe des abgesperrten Rosa-Luxemburg-Platzes zu beengt gewesen. Den Verschwörer:innen am Reichstag um den abgedrifteten Koch Attila Hildmann hingegen sei es vorsätzlich wenig um die Einhaltung von Abstand gegangen. Vor allem Teilnehmer:innen rechtsoffener Demos wie am Brandenburger Tor und am Reichstag, wo nicht nur Tomiak einschlägiges Publikum beobachtete, hätten sich nicht für Hygiene-Auflagen interessiert. Teilweise marschierten bis zu 500 Personen vom Brandenburger Tor Richtung Alex – unbehelligt von der Polizei.
Gerechtfertigt scheinen dann auch die Beschwerden der Organisator:innen des Protests am Schendelpark: Die Polizei sei rigide vorgegangen, habe bereits vor Beginn der Kundgebung Identitätsfeststellungen und Gewahrsamnahmen durchgeführt.
Michael Efler, Die Linke
Ähnlich äußerte sich Michael Efler, für die Linke als Beobachter am Schendelpark unterwegs. „Bei der linken Demo war das Vorgehen der Polizei sehr viel härter als bei der sogenannten Hygiene-Demo“, sagt er der taz am Sonntag. „Mehr Fingerspitzengefühl wäre schön gewesen, die Polizei hat von Anfang an Maßnahmen übertrieben durchgesetzt.“ Der Einsatz müsse ein Nachspiel haben. Efler will nun die Maßnahmen noch einmal im Innenausschuss behandelt wissen oder eine Anfrage dazu stellen.
Ein ähnliches Bild bot sich am Alexanderplatz bei der linken Kundgebung von Reclaim Club Culture. Dort beschlagnahmte die Polizei bei der friedlichen Veranstaltung plötzlich einen Lautsprecherwagen und drehte die Musik ab, die eigentlich „rechte Folienkartoffeln wegbassen“ sollte. Warum sie all dies tat, ist unklar. Anfragen blieben am Sonntag unbeantwortet.
Für Efler zeigt der Samstag vor allem, dass schnell Lockerungen hermüssen: „Die Begrenzung auf 50 Personen ist wirklich Mist. Das ist in der Praxis undurchführbar. Denn welche 50 Personen zählen dazu: Die im klar abgesperrten Bereich der Kundgebung, die sich an die Abstandsregeln halten? Oder auch die außen Umherstehenden?“ Sowohl für Protestierende also auch für die Polizei sei es ungeheuer schwer, das einzuschätzen. Anstatt penibel auf die Teilnehmer:innenzahl zu achten, sollte die Polizei sich darauf konzentrieren, Menschenansammlungen ohne Abstand aufzulösen.
Sven Kohlmeier beobachtete für die SPD die Proteste. „Ich möchte, dass auch die Zivilgesellschaft gegen Verschwörungstheoretiker und Nazis auf die Straße gehen kann und sagt: ‚Wir wollen euch Aluhüte und Nazis nicht, die sich nicht an Hygiene-Bestimmungen halten‘.“ Sein Vorschlag: Auf der Straße des 17. Juni sei auch mit Mindestabstand und Hygieneregeln Platz für 5.000 Menschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“