Versäumnisse vor und nach dem 7. Oktober: In Israel werden die Fragen lauter
Israels Staatsprüfer kündigt eine umfangreiche Aufarbeitung des Hamas-Überfalls an. Netanjahus Koalition steht zunehmend unter Druck.
Lange herrschte nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober in Israel ein Burgfrieden. Die Krise rund um die Zukunft der Demokratie, Kontroversen zwischen religiösen und säkularen Juden, selbst die Frage nach der Verantwortung für das Versagen der Sicherheitsbehörden: Dafür würde nach dem Krieg Zeit sein. Knapp drei Monate später scheint weder die Zerstörung der Hamas noch die Befreiung der verbliebenen rund 130 Geiseln in greifbarer Nähe. Israels Armeechef Herzi Halevi geht von „vielen weiteren Monaten“ Krieg aus. Die stillschweigende Vereinbarung, interne Konflikte hintanzustellen, wird vor diesem Hintergrund brüchig.
So werden Fragen lauter: Wie konnte es sein, dass die Hamas-Terroristen die Hightechsperranlage überwanden und die israelische Armee derart unvorbereitet war? Bisher haben mehrere hohe Militärs und Geheimdienstchefs öffentlich Verantwortung für das Versagen der Sicherheitsbehörden übernommen. Eine genaue Untersuchung steht jedoch aus. Der Inlandsgeheimdienst Schin Bet hat angesichts neuer Hinweise auf Versäumnisse vor dem „schwarzen Samstag“ nun mitgeteilt, man konzentriere sich auf den Krieg gegen die Hamas und bereite eine umfassende Untersuchung nach dem Ende der Kämpfe vor.
Versagen auf allen Ebenen
So lange wollen nicht alle warten: Matanjahu Englman, dem als von der Knesset gewähltem Staatsprüfer die Kontrolle allen staatlichen Handelns in Israel obliegt, stellte am Mittwoch die Eckpunkte einer geplanten umfassenden Untersuchung vor. Seine Behörde werde den Großteil ihrer Ressourcen der Frage widmen, wie es zu den Geschehnissen des 7. Oktober kommen konnte und wie darauf reagiert wurde.
„Wir werden nichts unversucht lassen“, sagte der 57-Jährige. Die Rolle eines jeden mit „persönlicher Verantwortung“ für „das Versagen auf allen Ebenen“ solle durchleuchtet werden. Damit ist auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gemeint, der jede Verantwortung von sich weist und die Sicherheitsbehörden beschuldigt. Der Regierungschef sprach bisher nur vage von „unbequemen Fragen“, die gestellt werden müssten.
Deutliche Warnungen wurden ignoriert
Englmans Behörde will diese Fragen nun stellen. Die Liste ist lang: Geprüft werden sollen das Vorgehen von politischen Entscheidungsträgern und Armeeangehörigen am 7. Oktober selbst, die Geheimdienstarbeit und die Verteidigungsbereitschaft an der Grenze zum Gazastreifen vor dem Angriff der Hamas, die Finanzierung der Hamas und die mangelnde Ausrüstung der Soldaten.
Seit Kriegsbeginn gibt es immer mehr Hinweise, dass Armee und Geheimdienste bereits vor dem Überfall deutliche Warnungen erhalten und ignoriert hatten. Am Mittwoch kam ein weiterer hinzu: Dem TV-Sender Kanal 12 zufolge erhielt der Inlandsgeheimdienst Schin Bet bereits im Sommer Warnungen von einer Quelle in Gaza, die vor „einer großen Aktion“ kurz nach den jüdischen Feiertagen Sukkot und Jom Kippur warnte.
Laut New York Times lagen zudem bereits mehr als ein Jahr vor dem Angriff detaillierte Invasionspläne vor. Der Armeegeheimdienst soll von Hamas-Trainingsmanövern gewusst haben. Armeespähposten meldeten in den Monaten vor dem 7. Oktober mehrfach verdächtige Aktivitäten in der Nähe des Grenzzauns. Keine der Warnungen wurde ernst genommen.
Umfragewerte der Regierung stürzen ab
Untersuchen will Englman auch die Maßnahmen der Regierung nach Kriegsbeginn: In den Wochen nach dem 7. Oktober war es häufig die israelische Zivilgesellschaft gewesen, die Vertriebene aufgenommen, Erntehelfer für Landwirte organisiert und Soldaten Ausrüstung zur Verfügung gestellt hatte. „Die Versäumnisse, die bei der Reaktion der Sicherheitskräfte am Tag des Massakers offensichtlich wurden, haben sich in einer ganzen Reihe von Lücken im Umgang mit zivilen Problemen fortgesetzt“, sagt Englman.
Zudem bricht der Streit über den von der Regierung bis Oktober vorangetriebenen Justizumbau wieder auf. Der TV-Sender Kanal 12 berichtete aus einem durchgestochenen Entwurf des Obersten Gerichtshofs, den bisher verabschiedeten Teil der Reformen für ungültig zu erklären. Die Pläne der in Teilen rechtsextremen Regierung und die Massenproteste dagegen hatten das Land in Atem gehalten. Derweil sind die Umfragewerte der Regierungskoalition abgestürzt. Netanjahus Koalition käme derzeit nur noch auf rund 45 von insgesamt 120 Mandaten.
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