Vermittlung von NS-Geschichte: „Ein schöner Rasen geht hier nicht“
Der Historiker Andreas Sander hat 30 Jahre an der „Topographie des Terrors“ geforscht. Ein Gespräch über den historischen Ort und seine Bedeutung heute.
taz: Herr Sander, Sie haben als Historiker fast 30 Jahre in der Topographie des Terrors gearbeitet, sind gerade in den Ruhestand gegangen. Wie wichtig war es für Sie, das an diesem historischen Ort zu tun?
Andreas Sander: Ich habe in den 1970ern am OSI in West-Berlin studiert. Das war eine Zeit, in der man sich stark mit dem Nationalsozialismus auseinander gesetzt hat – aber auf sehr theoretischer Ebene. Es ging um Faschismus-Theorien, die jeweils politischen Lagern zugeordnet wurden – und es gab heftige Auseinandersetzungen, wer die Weisheit erfunden hat. Mein erster Schritt weg von dieser abstrakten Debatte war Anfang der 80er, als ich begann, mich in Geschichtswerkstatt-Projekten mit Lokalgeschichte zu befassen. Der Punkt in den 70ern war ja: Man hat sich die Köpfe heiß geredet über Theorien, aber nicht gewusst, dass es die Prinz-Albrecht-Straße 8, wo heute die Topographie ist, überhaupt gibt und welche Bedeutung dieser konkrete Ort damals gehabt hat.
Nämlich?
Genau das hat die Topographie dann ab 1986 erforscht. Hier wurde erstmals hinterfragt: Was bedeutet NS-Terror überhaupt? Welche Institutionen haben mitgewirkt, wer waren die Akteure, wer steht hinter dem Apparat? Insofern hat dieser Ort nicht nur eine Bedeutung für die Besucher – hoffentlich –, sondern auch für uns als Forscher. Für die Topographie gilt: Unser erstes Exponat ist das Gelände. Das ist der Ausgangspunkt. Wir erzählen hier nicht die ganze Geschichte des Nationalsozialismus, wir fokussieren auf die Institutionen, die an diesem Ort waren. Wenn man sich das genauer anguckt, merkt man, dass es die großen Massenverbrechen der Nationalsozialisten sind, die mit diesem Ort verknüpft sind – weil hier das administrative Zentrum war. Große Themen wie der Holocaust sind mit diesem Ort unmittelbar verbunden.
Inzwischen ist das Gelände sehr geglättet im Vergleich mit dem rauen Provisorium, den Schuttbergen, auf denen die Topographie 1987 angefangen hat. Man spürt den Ort nicht mehr richtig.
Der Mensch Geboren am 6. Oktober 1952 in der Nordheidestadt Buchholz war Sander das Dritte von vier Kindern. Der Vater war Verwaltungsangestellter, die Mutter Krankenschwester. Sander ist verheiratet und lebt seit 1973 in Berlin. Studium an der Freien Universität von 1973 bis 1980 in Geografie und Politik, letzteres am Otto-Suhr-Institut. 1985 macht er das 2. Staatsexamen für das höhere Lehramt. Sander engagierte sich seit 1983 in der Berliner Geschichtswerkstatt, 1986/87 im Ausstellungsprojekt zur Schöneberger „Roten Insel“.
Die Aufgabe Bei der Topographie des Terrors war Sander von November 1989 bis Anfang Mai 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter. Als Kurator war er beteiligt an den Ausstellungen „Krieg gegen die Sowjetunion“ (1991), „Berlin 1945“ (1995) und „Das Hausgefängnis der Gestapo-Zentrale“ (2005/6) und der Dauerausstellung „Topographie des Terrors“.
Da berühren Sie einen wunden Punkt. Als jemand, der seit 1989 dabei ist, muss ich aufpassen, nicht in Sentimentalität zu verfallen. Aber in der Tat war für mich der Wechsel der Erscheinungsform dieses Ortes schwierig, auch wenn wir ihn gewollt haben. Zuerst diese Brache: 1987 hatte man versucht, auf der Freifläche einen Rasen zu sähen. Der fing auch an zu wachsen, ging aber in kürzester Zeit wieder ein. Am Ende war dort eine Steppe, da wuchsen nur Königskerzen, Disteln. Man merkte, dieses Gelände sperrt sich gegen eine Verschönerung. Ein schöner Rasen geht hier nicht. Das hatte natürlich eine Aussagekraft, eine Wirkung in den Stadtraum hinein.
Die Umgebung der Topographie wurde auch immer glatter.
Ja, auch sie hat sich seit 1989 extrem verändert. Das fing in den 1980er Jahren an mit der IBA-Bebauung, etwa in der südlichen Friedrichstadt. Nach dem Mauerfall, der Wiedervereinigung war dieses Areal nicht mehr am Rande Westberlins sondern wieder mitten in der City.
Dann kam der Neubau der Ausstellungshalle, die im Mai 2010 eröffnet wurde …
… und da muss ich schon sagen, dass ich mit dieser neuen Situation anfangs stark gefremdelt habe. Es gab plötzlich eine Institution ‚Topographie des Terrors‘. Vorher war alles provisorisch, wir waren ein auf Dauer verlängertes Ausstellungsprojekt, könnte man sagen. Jetzt ist man eine Institution mit administrativen Abläufen, einem schönen Haus – und mehr Möglichkeiten, das muss man klar sehen, etwa Räumlichkeiten für Bildungsarbeit, die wir vorher nicht hatten. Und das Gelände ist plötzlich: gestaltet. Aber es musste eine neue Form gefunden werden, man kann eine Brache nicht auf Dauer konservieren, sie verändert sich – so wie sich auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema verändert und nach anderen Formen verlangt.
Sie haben über das „Geheime Staatspolizeiamt“ geforscht, dass hier, in der früheren Prinz-Albrecht-Straße 8, vor 85 Jahren gegründet wurde. Ist dazu inzwischen nicht alles bekannt?
Das könnte man denken. In der Tat gibt es zahlreiche Publikationsreihen und Veröffentlichungen zum Thema Gestapo, gerade in den 90er Jahren sind viele, auch regionale Studien erschienen. Über das Personal, die Täter und ihre Taten. Aber wenn Sie nach ganz konkreten Dingen fragen, etwa wie hier im Geheimen Staatspolizeiamt die Referate aufgebaut waren, dann finden Sie vielleicht den Namen des Leiters, vielleicht eines weiteren Mitarbeiters. Aber mehr Namen gibt es kaum.
Warum wollen Sie denn wissen, wie noch der letzte Mitarbeiter hieß?
Ja, warum? Ausgangspunkt ist natürlich die Geschichte der großen Verbrechen, die Geschichte dieses Terrorsystems mit seinen Folgen – nicht nur für Deutschland, sondern für Europa. Man steht immer vor der großen Frage, wie das passieren konnte. Und eine weitere wichtige Frage ist: Wer hat mitgemacht? Was waren das für Menschen, wie waren ihre sozialen Hintergründe? Wie konnte aus einem normalen Polizeibeamten und Familienvater während des Krieges ein Massenmörder werden, der bereit ist, etwa in der Sowjetunion Frauen, Kinder, Alte zu erschießen?
Auch solche Leute haben hier gearbeitet?
Es ist übliche Praxis gewesen, dass Gestapo-Beamte, die hier Dienst taten, im Krieg zu einem Einsatz im Rahmen von Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD abgeordnet wurden. Das waren die mobilen Einheiten des Reichssicherheitshauptamtes, das ja auch auf dem heutigen Topographie-Gelände seinen Sitz hatte.
Also die Idee des reinen Schreibtischtäters …
… der hier sitzt mit seinen Ärmelschonern und fürchterliche Dinge exekutiert, ist ein unvollständiges Bild. Die Gestapo-Beamten von hier waren alle auch vor Ort im Einsatz. Selbst die Chefs sind als Chefs der Einsatzgruppen vor Ort gewesen. Viele haben eine kürzere Einsatzzeit gehabt, weil sie hier gebraucht wurden. Aber es wurde schon drauf geachtet, dass jeder seinen „Kriegseinsatz“ hatte.
Verstehe. Da ergibt es schon Sinn, nach möglichst allen Namen zu forschen. Ein weiteres Forschungsfeld von Ihnen war die Geschichte des „Hausgefängnisses“ der Gestapo-Zentrale.
Ja, dieser Ort war ja nicht nur geprägt durch die administrativen Zentren des Terrorapparates, also Reichssicherheitshauptamt, Geheime Staatspolizei und Sicherheitsdienst, sondern er war auch ein Ort direkten Leidens. Im Hausgefängnis waren vor allem politisch Verfolgte während der Dauer der Vernehmung inhaftiert. Und da stellt sich die Frage: Wer war das eigentlich? Man würde erwarten, dass die Gestapo Haftbücher geführt hat. Hat sie auch. Allein: Es gibt nur ein einziges Haftbuch, das für den Bereich „Marxismus, Sozialdemokratie und linkssozialistische Gruppierungen“. Alle anderen Haftbücher, für Kommunisten, Homosexuelle und andere Haftgruppen, die es gegeben hat, sind nicht mehr vorhanden.
Im Krieg zerstört?
Nein, die Gestapo hat die Unterlagen offensichtlich kurz vor Kriegsende vernichtet. Vielleicht findet sich im Sonderarchiv in Moskau in der hintersten Kammer noch etwas. Kriegseinwirkungen gab es auch, etwa bei Unterlagen vom Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Damit muss man umgehen als Forscher, dass man in den Archiven immer nur auf Fragmente stößt – auch in Bezug auf Personalakten.
So ein erhaltenes Haftbuch ist ein absoluter Glücksfall?
Ja, genau.
Was haben Sie damit gemacht?
Das Projekt „Topographie“ startete ja 1986 anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins, die ein Jahr später war. Ich wurde 1989 dazu geholt, um Zeitzeugeninterviews durchzuführen, denn das war damals schon hohe Zeit. Die Inhaftierten waren ja schon sehr betagt, die meisten waren zwischen 1900 und 1915 geboren, manche noch davor. Ich habe schnell versucht, möglichst viele, deren Namen wir aus dem erhaltenen Haftbuch hatten, zu erreichen. Am Ende konnte ich noch mit 43 Personen sprechen, die im Hausgefängnis der Gestapo-Zentrale inhaftiert waren. Die größte Gruppe war aus dem Spektrum der politischen Linken: KPD, Sozialdemokraten oder Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Aber ich konnte auch noch Vertreter der Gruppe vom 20. Juli 1944 sprechen und Mitglieder der „Roten Kapelle“. Nur: Viele Briefe, die ich damals verschickt habe, sind zurückgekommen mit dem Hinweis …
… verstorben?
… oder Adressat unbekannt. Also eigentlich war es schon viel zu spät, aber immerhin konnte ich noch einige sprechen. Aus diesen Interviews haben wir dann für unsere Ausstellung eine Hörstation aufgebaut, mit Ausschnitten, die vor allem die soziale Realität in diesem Haus und bei den Vernehmungen deutlich machen.
Wie wichtig ist es für die Besucher, dass die Topographie ein historischer Ort des NS-Terrors ist?
Sehr wichtig. Wir hören immer wieder, dass der nüchterne dokumentarische Blick auf die Täter und ihre Verbrechen, der für viele ungewöhnlich ist, anregt, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Der Bezug auf den historischen Ort schafft hierbei unterstützend eine gewisse Form von Authentizität und Seriosität. Und unsere Besonderheit ist ja: Wir sind kein Museum, keine Gedenkstätte – das hier soll ein Ort der Auseinandersetzung sein.
Worüber?
Über die Themen, die mit diesem Ort verknüpft sind. Um mal ein konkretes Beispiel zu sagen: Wenn Sie an die „Schutzhaft“ der Gestapo denken, dieses Instrument, jemanden in Haft nehmen zu können, ohne dass ein Richter mitwirkt, also rein aus Gestapo-Willkür heraus – da haben Sie automatisch auch die Frage: Welche Bedeutung hat eigentlich die Kontrolle von staatlicher Exekutivgewalt? Und das ist ein Thema …
… das auch heute brisant ist.
Absolut! Wenn Sie sich die Entwicklung in anderen europäischen Ländern anschauen, aber auch in Deutschland selbst. Das heißt, wir setzen uns hier mit Themen auseinander, die unmittelbaren Gegenwartsbezug haben, ohne dass man ihn künstlich herstellen müsste. Thema Folter: Darf man einen Kindesentführer foltern, um herauszubekommen, wo er das Kind versteckt hat? Ich wünsche mir für die Zukunft, dass man hier nach wie vor kritische Fragen stellt, nicht nur in Bezug auf die Geschichte, sondern auch auf die Gegenwart. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es im Grundgesetz. Wenn Sie sich den Satz mal richtig vor Augen führen, dann hat er eine irrsinnige Sprengkraft. Auch heute noch.
Wieso?
Wenn Sie diesen Satz real umsetzen wollen, was heißt das im alltäglichen Umgang miteinander?
Sie meinen, dass wir permanent dagegen verstoßen?
Ja, genau. Das sind Themen, die mit diesem Ort unmittelbar verknüpft sind. Und das ist ein wesentliches Element unserer Bildungsarbeit. Die TeilnehmerInnen bei unseren Workshops sind ja meistens SchülerInnen, und der Antrieb, mit ihnen zu arbeiten, ist, nicht nur über die Vergangenheit zu reden, sondern über das Hier und Jetzt.
Der Ende Mai ebenfalls in Ruhestand gehende Gedenkstättenleiter von Sachsenhausen, Günther Morsch, hat zuletzt geklagt, dass immer weniger Schulklassen aus Berlin und Brandenburg dorthin kommen. Wie ist das hier?
Das kann ich für uns nicht sagen. Zu unserem Workshop-Programm kommen kontinuierlich zu über 50 Prozent Gruppen aus dem Berlin-Brandenburger Raum. Wir haben auch „Stammkunden“ unter den Schulen und es gibt viel Mund-Propaganda. Wir müssen keine Werbung machen, mit den Anfragen, die kommen, sind wir an der Grenze dessen, was wir leisten können. Aber man muss ins Detail gucken: Wer kommt, wen will ich noch gezielt ansprechen?
Nämlich?
Ich sehe zum Beispiel das Problem, dass die meisten SchülerInnen aus dem gymnasialen Bereich kommen. Man muss also sehen, wie man sich noch mehr öffnen kann für Sekundar- und Berufsschulen, um diese „soziale Schieflage“ etwas auszugleichen. Wir haben auch Angebote in leichter Sprache, wollen aber noch mehr integrativ arbeiten. Und: Wir haben jetzt Zusatzangebote für Menschen aus dem arabischsprachigen Raum, da gibt es Sondermittel des Senats. Damit entwickeln wir gerade Programme, die zunächst ausschließlich für Geflüchtete gedacht waren, die wir aber öffnen wollen mit dem Ziel, mehr in die muslimische Community in der Stadt hineinzukommen.
Nicht über Schulklassen?
Nein, ganz allgemein, über die Vereine. Da tasten wir derzeit ab, ob es eine kontinuierliche Zusammenarbeit geben könnte. Aber wir müssen auch stärker berücksichtigen, dass sich die Schulklassen heute ethnisch bunter zusammensetzen. Man muss gucken, ob man nicht vielleicht zu sehr aus der deutschstämmigen Perspektive, aus dem deutschen Narrativ, dem Familiennarrativ heraus auf die Geschichte blickt.
Was halten Sie von der Idee von Staatssekretärin Sawsan Chebli, eine Gedenkstätten-Pflicht für Schulklassen einzuführen?
Überhaupt nichts. Das muss vom Engagement der Lehrkräfte und noch besser: auch der SchülerInnen, getragen sein, sonst macht es überhaupt keinen Sinn. Ohnehin sind viele Schulgruppen, die nicht für einen Workshop, sondern nur für eine einstündige Führung herkommen, oft ganz schlecht vorbereitet. Dabei ist die Einbettung eines Besuches von Schulklassen hier oder in einer Gedenkstätte elementar wichtig. Das löst man nicht durch eine Pflichtsetzung.
Aber wie dann?
Man muss es den Lehrkräften auch ermöglichen, aus den Schulen herauszugehen. LehrerInnen erzählen uns ganz oft, dass es für sie mit einem Riesenaufwand verbunden ist, Zeit für einen Vormittagsbesuch hier freizuschaufeln. Viele resignieren daher – und machen es eben nicht.
Hat Sie die lange Beschäftigung mit diesem „schweren“ Thema eigentlich verändert?
Natürlich entwickelt man eine gewisse Routine, ist weniger geschockt von Dingen, Ereignissen, von denen man erfährt. Dennoch habe ich manchmal gemerkt: Jetzt muss ich eine Pause machen, weil mich etwas zu sehr berührt. So abgebrüht ist man eben doch nicht, Gott sei Dank. Aber Sie müssen eine professionelle Distanz schaffen, sonst sind Arbeiten wie die Ausstellung über das „Hausgefängnis“ der Gestapo hier, die ich kuratiert habe, gar nicht zu schaffen. Dennoch: Diese Frage, die wir eingangs hatten – wie kann man die Entwicklung eines normalen Polizeibeamten zu einem Massenmörder erklären – die hat mich nie losgelassen. Wie kann man erklären, dass jemand dieses oder jenes tut? Welche Möglichkeiten habe ich, hat die Gesellschaft, einzugreifen? Wie wird ein Jugendlicher Rechtsextremist – was sind die Rahmenbedingungen dafür, dass er austickt und gewalttätig wird? Diese Fragen treiben mich auch heute um – und werden es weiter tun.
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