Vermittler im Ukrainekrieg: Erdoğans Balanceakt
Der türkische Präsident bemüht sich um einen Ausweg aus dem Krieg. Doch mit Russlands Machthaber Putin brechen will Erdoğan nicht.
Vorausgegangen war am Sonntagabend ein längeres Telefonat zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem russischen Kollegen Wladimir Putin. Noch auf dem Rückweg vom Nato-Sondergipfel am Donnerstag in Brüssel hatte Erdoğan eine neue Verhandlungsinitiative angekündigt. Am Freitagabend hatte er deswegen bereits mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodomir Selenski gesprochen.
Gegenüber der türkischen Presse sagte er anschließend, es gäbe in den Gesprächen zwischen den Delegationen aus der Ukraine und Russland Fortschritte in Fragen einer ukrainischen Neutralität, für deren zukünftige Sicherheit die Türkei als eine Garantiemacht neben anderen bereitstünde. Auch in der Frage des Schutzes der russischen Sprache und der von Russland geforderten Demilitarisierung gebe es Fortschritte. Keine Annäherung gibt es dagegen bei Russlands Forderung nach Abtretung der Krim und weiterer Gebiete in der Ostukraine. Auch Kremlsprecher Peskow warnte vor zu hohen Erwartungen.
Am Rande des Nato-Gipfels hatten Erdoğan, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis auch verabredet, gemeinsam zu versuchen, die verbliebenen Zivilisten aus dem fast völlig zerstörten Mariupol herauszuholen. Deshalb will auch Macron in den nächsten Tagen mit Putin telefonieren.
Ankara geht undenkbare Schritte
Bereits einmal gelang es den türkischen Diplomaten vor zwei Wochen, den russischen und den ukrainischen Außenminister am Rande einer Konferenz in Antalya an einen Tisch zu bekommen. Auch wenn das Treffen ohne Ergebnis blieb, will Erdoğan nicht aufgeben. Dazu ist die Türkei bereit, noch vor Kurzem undenkbare Schritte zu machen. Die Ankündigung, gemeinsam mit Griechenland und Frankreich – den beiden Erzfeinden im Streit um Schürfrechte im Mittelmeer – Zivilisten aus Mariupol retten zu wollen, kommt einer kleinen Sensation gleich.
Der Krieg gegen die Ukraine hat in der türkischen Außenpolitik vieles verändert. Befriedigt stellte Erdoğan nach dem Nato-Sondergipfel am letzten Donnerstag fest, dass vielen Nato-Partnern die Bedeutung der Türkei für das Bündnis wieder klar geworden sei. Aber auch die Türkei will nach Jahren der Irritationen wieder unzweideutig dazugehören. „Die Nato“, stellte Erdoğan klar, „ist der entscheidende Garant für die Sicherheit in Europa. Wir werden an unserer Bündnistreue keinen Zweifel aufkommen lassen.“
Die hatte es lange gegeben, vor allem nachdem Erdoğan 2017 in Moskau das modernste russische Raketenabwehrsystem S-400 eingekauft hatte und die USA die Türkei daraufhin aus dem Programm zum Bau und Kauf der modernsten Kampfflugzeuge F-35 hinausgeworfen hatte. Zeitweilig redete Erdoğan weit häufiger mit Putin als mit seinen Nato-Kollegen und vor allem mit dem französischen Präsidenten Macron focht er einen verbissenen Disput aus.
Das ist jetzt scheinbar alles vergessen. Erdoğan ist einer der wenigen Vertreter eines Nato-Staates, der noch einen direkten Draht nach Moskau hat. Deshalb wird ihm in Brüssel derzeit auch nicht verübelt, dass die Türkei sich an den Sanktionen der EU und anderer Nato-Staaten nicht beteiligt und auch einen ganz anderen Ton gegenüber Putin anschlägt. Während US-Präsident Joe Biden vom Kriegsverbrecher spricht, der verschwinden müsse, drängt Erdoğan den russischen Präsidenten dazu, „jetzt einen ehrenhaften Rückzug“ aus der Ukraine zu vollziehen.
Türkei abhängig von Russland
Der türkische Präsident will jedenfalls einen kompletten Bruch mit Russland vermeiden. Den jüngst lancierten Vorschlag, die Türkei solle doch ihre russischen S-400-Systeme an die Ukraine weiterreichen und stattdessen wieder zu den amerikanischen Rüstungskonzernen zurückkehren, wies Ankara brüsk zurück. Erdoğan selbst sagte dazu, dass sei ein plumper Versuch einiger Kreise in den USA, erneut einen Keil zwischen Amerika und die Türkei zu treiben. Auch bei dem kürzlich erfolgten Besuch von Kanzler Scholz in Ankara hatte Erdoğan nicht versprechen wollen, künftig keine russischen Waffen mehr zu kaufen.
Russland liefert rund 50 Prozent des Öl- und Gasbedarfs der Türkei. Darüber hinaus baut ein russischer Staatskonzern derzeit das erste AKW der Türkei. Zudem ist für die türkische Landwirtschaft Russland der wichtigste Absatzmarkt. Fällt der aus, verfaulen die Tomaten, die in den Gewächshäusern um Antalya das ganze Jahr über geerntet werden.
Antalya und die weitläufigen Strände an der türkischen Riviera sind auch der beliebteste Ferienort für Russen außerhalb ihres eigenen Landes. Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hat deshalb sogar am Wochenende den in der EU mit Sanktionen belegten russischen Oligarchen versichert, dass sie in der Türkei nichts zu befürchten hätten. Nach und nach trudeln deshalb die Superyachten der Oligarchen, die bislang in Spanien oder Südfrankreich lagen, in türkischen Häfen an der Ägäis ein.
Auch in Nordsyrien braucht Erdoğan die Kooperation mit Moskau. Denn sollte Putin dem syrischen Diktator Baschar al-Assad grünes Licht geben, im Schatten des Ukrainekrieges einen neuen Angriff auf die letzte Rebellenprovinz Idlib zu starten, droht der Türkei eine neue Flüchtlingswelle aus Syrien.
Seemine taucht am Bosporos auf
Auch jenseits der aktuellen Konflikte wollen Erdoğan und die überwiegende Mehrheit der türkischen Bevölkerung keinen Konflikt mit Russland. Über mehrere Jahrhunderte waren das aufstrebende Zarenreich und das Osmanische Reich die beiden größten Konkurrenten rund ums Schwarze Meer. Seit dem 18. Jahrhundert gab es etliche Kriege mit Russland, die für die Osmanen zumeist schmerzlich endeten. Die Erinnerung daran ist tief im kollektiven Gedächtnis verankert.
Anders als gegenüber Deutschland macht der ukrainische Präsident Selenski seinem türkischen Kollegen wegen dessen Haltung zu Russland aber keine öffentlichen Vorwürfe. Denn trotz der Kooperation mit Moskau hat Erdoğan die territoriale Integrität der Ukraine immer unterstützt, die Besetzung der Krim scharf verurteilt und vor allem bereits vor Jahren begonnen, auch Waffen an die Ukraine zu verkaufen. Heute haben die türkischen Kampfdrohnen Bayraktar TB2 geradezu einen Kultstatus in den sozialen Medien der Ukraine.
Seit diesem Wochenende ist die Türkei darüber hinaus auch das erste Nato-Land, das militärisch direkt vom Krieg betroffen ist. Eine wahrscheinlich ukrainische Seemine, die vor der Küste von Odessa ausgebracht worden war, ist am Samstag im Bosporus gesichtet worden. Die wichtige Wasserstraße zwischen Schwarzem und Mittelmeer musste zeitweilig gesperrt werden, ehe türkische Marinetaucher die Mine unschädlich machten. Am Montag wurde die nächste abgetriebene Mine gesichtet. Etliche weitere sollen die türkische Küste bedrohen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“