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Verlust Antoine Leiris’ Frau Hélène wurde im November 2015 im Bataclan in Paris erschossen. Über seine Trauer und die seines zweijährigen Sohns schreibt er ein Buch: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“„Auf Hass gibt es keine Antwort“

Gespräch Louis Belin Foto Miguel Ferraz

taz.am wochenende: Herr Leiris, mehr als sechs Monate sind die Terroranschläge in Paris her, bei denen Ihre Frau Hélène im Bataclan erschossen wurde. Wie geht es Ihnen?

Antoine Leiris: Besser. Als Papa bin ich ängstlich, aber ich komme zurecht. Als Schriftsteller funktioniere ich wieder und habe erneut angefangen zu schreiben. Aber der Mensch Antoine Leiris ist immer noch ein bisschen beschädigt – recht beschädigt eigentlich.

Warum trennen Sie zwischen Vater, Autor und Mensch?

Weil mein Sohn verwirrt wäre, wenn er auf meinem Schoß sitzt und mit mir spielen will, und ich nur weinen würde. Deshalb muss ich alles trennen.

Sie haben nach den Ereignissen vom 13. November 2015 in Paris ein Buch geschrieben. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“. So lautete auch der Titel des Briefes, den Sie kurz nach den Terroranschlägen auf Facebook posteten und mit dem Sie bekannt wurden. Für wen haben Sie das Buch geschrieben?

Nur für mich. Oft werde ich danach gefragt, ob ich das Buch für Hélène geschrieben habe. Aber nein: Das Buch ist viel zu klein, um Hélène zu ehren. Hélènes Huldi­gung findet jeden Tag in mir statt, in meinem ganzen Sein. Das ist etwas Großes. Nie habe ich daran gedacht, wer mich lesen wird, oder wie, oder zu welchem Zweck. Ich wollte absolut frei schreiben.

Ist Ihnen das gelungen?

Im Buch habe ich chronologisch jene Situationen beschrieben, die aneinandergereiht erklären, wie meine Lage damals tatsächlich war.

Wie haben Sie die Situationen ausgewählt?

Vor allem gab es da eine Grenze: die der Intimität. Ich wollte auch, dass alles, was ich schildere, der Realität entspricht – alle Ereignisse haben sich so abgespielt, wie sie im Buch beschrieben sind. Ich wollte keine künstlichen Anekdoten erfinden, um meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Ich wollte etwas schildern, das über das Erzählte hinausgeht.

Wie erklärten Sie Melvil, Ihrem Sohn, die Ereignisse?

Bisher habe ich ihm die Ereignisse noch nicht erklärt. Er ist noch zu klein. Ich habe ihm gesagt, dass seine Mama tot ist, dass niemand mehr sie sehen kann. Er hat die Veränderung ja gespürt. Die Wörter – Tod, Sterben – mussten ausgesprochen werden, damit sie kein Tabu sind, damit sie nie ein Tabu werden.

Wie also sprechen Sie mit ihm?

Er ist noch ein wirklich kleiner Junge. Wir können uns nicht um ein Lagerfeuer setzen und darüber reden, wie Mama war und so weiter, während wir Marshmallows grillen. Aber ich erzähle ihm von Hélène. Ich predige ein bisschen ins Leere, aber er ist sehr aufmerksam, also es bleibt etwas. Und wenn er mir Fotos von seiner Mama zeigt, reden wir darüber. Ich erzähle von ihr, sage ihm, deine Mama mochte den Duft „Louve“, ihr Parfüm, deine Mama mochte Rock’n’ Roll.

Am 13. November war Hélène bei einem Konzert der Eagles of Death Metal im Bataclan. Mag Melvil Rockmusik wie seine Mutter?

Er mag lieber einfachere Melodien. Also es gibt schon Sachen, die er mag: Philippe Katerine, Françoise Hardy, Jacques Dutronc. Ziemlich gute Sachen. Allerdings wird er sich irgendwann in die Schallplattensammlung seiner Mama vertiefen wollen. Sicher.

Sie haben zwölf Jahre lang mit Hélène gelebt. Was hat Ihnen an ihr gefallen?

Ihre riesengroßen Augen, glaube ich. Ihre Klugheit, ihre Liebenswürdigkeit, ihr Humor. Sie war so schön, dass es jeden umgehauen hat. Ich habe mich einfach verliebt.

Als Sie von den Schüssen im Bataclan erfuhren, dachten Sie da sofort, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte?

Egal ob man sicher ist oder nicht: Sofort bricht ein Sturm in einem aus. Er zieht auf, breitet sich aus und ist auch nicht mehr aufzuhalten, bis man erfährt, dass sie gefunden wurde – oder etwas anderes.

Sie mussten einen ganzen Tag warten, bis Sie erfuhren, dass sie tot ist. Wie haben Sie dieses Warten erlebt?

Es sind zwei sich widersprechende Gefühle, die einen überrollen: Verzweiflung und Hoffnung. Einerseits: Es ist vorbei, wir hätten sie längst wiederfinden müssen. Andererseits: Es kann nicht sein, man weiß nie, die Chance ist so gering, aber es gibt sie. Beide Gefühle wechseln sich nicht ab, sie sind wirklich gleichzeitig da.

Über den Augenblick, als Sie am Telefon erfahren, dass Hélène tot ist, schreiben Sie nur eine Zeile: „Antoine, es tut mir so leid …“ Warum nicht mehr?

Aus Zartgefühl. Aus Anstand. Das ist etwas, das nur uns vorbehalten ist, das nur wir in uns tragen. Was ich in meinem Buch aber mitteile, ist dieses Gefühl des Verlusts, diese Allgegenwart der Abwesenheit, dieses Alleinsein mit der Verantwortlichkeit für das Kind. Viele haben in ihrem Leben damit zu tun.

Im Buch erzählen Sie, wie Sie mit Melvil in die Welt der Trauer getreten sind.

Ich habe eine Grenze zwischen der Welt und uns gezogen, denn ich musste meinem Sohn zeigen, dass er sich auf mich verlassen kann – jederzeit und bei allem, was er braucht, sei es Nahrung, Aufmerksamkeit, Sauberkeit, Unterhaltung –, dass wir jetzt eine Familienzelle zu zweit sind. Mittlerweile haben wir die Türen wieder aufgemacht, die Leute können wieder in unser Leben treten. Melvil wird es brauchen; er sucht überall Miniaturausgaben seiner Mutter. Ich habe mich immer über jede Art von Unterstützung gefreut, aber zuerst haben wir es gebraucht, zu zweit zu sein. Jetzt sind wir wieder offen. Wir brauchen Offenheit. Wir können nicht nur zu zweit bleiben.

Gibt es auch deshalb Ihr Buch?

Es mag merkwürdig erscheinen, aber mir fällt es schwer, über mein Privatleben, meine Intimität mit den Leuten zu sprechen. Das Schrei­ben hat mir das erlaubt. Die Wörter beschützen mich. Mit dem Schreiben gehe ich wirklich den Gefühlen, Widersprüchen, all diesen Dingen, die mich beherrschen, auf den Grund.

Wie unterscheidet sich Ihr Buch von dem Brief, den Sie nach Hélènes Tod auf Facebook posteten?

Mit einem Buch geht man tiefer, tiefer in die Intimität, – und kommt näher an die Leser.

250.000-mal wurde Ihr Brief auf Facebook geteilt. Haben Sie sich dadurch unterstützt gefühlt?

Sicher. Aber es ging eigentlich über mich hinaus. Frankreich und Paris wurden unterstützt, als Opfer der Angriffe. Alle diese liebevollen Nachrichten, die ich bekommen habe, wurden mir geschickt, aber eigentlich galten sie allen.

Warum ein so persönliches Buch? „Ich habe versucht, die Geschichte eines Kerls und seines Sohns zu erzählen, weil ich glaube, dass das Persönliche aussagekräftig ist“

Deshalb haben Sie sich überfordert gefühlt?

Ja, aber nicht nur. Der Facebook-Post ist für mich eine bloße Anek­dote. Ihn wieder in seinen Zusammenhang zu stellen, wie ich es im Buch tue, ihn zu datieren, er ist ja da auch abgedruckt, das erlaubt es mir irgendwie, ihn als mein Erlebnis zu dieser Zeit zu betrachten.

Sie verweigern den Hass. Aber wäre Hass nicht eine Option gewesen?

Selbstverständlich. Aber ich habe eine Alternative geboten, nämlich die, sich nicht vom Hass anstecken zu lassen, und die Leute haben sie angenommen. Viele waren von den Angriffen nicht direkt betroffen und fühlten sich nicht berechtigt, das zu behaupten, was ich auf Facebook behauptet habe. Meine Botschaft setzte einen anderen Ton als die Vergeltungsreden etwa des Front National.

Sie sind Journalist. Welche Verantwortung tragen die Medien genau in der Debatte über den Front National?

Ich habe diese Geschichte aus der Ich-Perspektive geschrieben, anstatt zu versuchen, große Friedensbotschaften zu predigen. Ich habe versucht, die Geschichte eines Kerls und seines Sohns zu erzählen, weil ich glaube, dass das Persönliche aussagekräftig ist. Ich möchte damit versuchen, an das zu appellieren, was tief im Inneren der Leute liegt – die Sehnsucht nach Würde und Klugheit. Ich bin ja Kulturjournalist, was auch eine besondere Art von Journalismus ist. Ich setze jedenfalls mehr Hoffnung in die Menschen als in das System. Ich kämpfe also lieber darum, die Menschen innerlich mit Schönem zu erheben.

Schafft das Ihr Buch?

Ich bin kein Guru. Ich hoffe einfach, dass ich damit in irgendeiner Form dazu beitrage, dass die Menschen mehr über die Welt nachdenken. Einen anderen Ehrgeiz habe ich nicht. Ich denke auch, dass viel zu viele Leute meinen, sie können die Welt erklären, und sogar genau bestimmen, was richtig und falsch ist, wer schuld oder verantwortlich ist an den Missständen.

Was kann Kultur leisten?

Sie soll die Leute und ihr Denken bereichern. Die Leute haben nicht nur darauf Lust, dass ihr protoreptiles Gehirn angesprochen wird. Sie wollen geistig wachsen. Sie streben nach Würde. Und nichts ist besser als die Kultur, um die Welt zu verstehen. Also ich habe nichts Besseres gefunden. Zuerst wollte ich Journalist werden, da ich mich für das Tagesgeschehen interessierte. Eines Tages habe ich angefangen, mich weniger für das Tagesgeschehen zu interessieren, und mehr für das Kino, die Literatur, die Musik, die Malerei. Und ich habe angefangen zu verstehen, dass ich die Welt in ihrer Realität nie besser verstanden habe als durch die Augen der Künstler.

Weil die nicht vorschreiben, wie man etwas zu verstehen hat?

Ich kann Leute nicht ausstehen, die eine Meinung zu allem haben. Das öffentliche Wort ist so herabgewürdigt worden, obwohl es eigentlich wertvoll ist. Ich will nicht etwas kommentieren, zu dem ich keine wohlüberlegte Meinung, an dem ich kein Interesse habe, nur um des Kommentierens Willen. Es ist äußerst selten, dass Leute wirklich so verstehen oder hören, dass Sie die Wirkung ihrer Wörter in ihrem Inneren spüren können. Diese Augenblicke sind zu wertvoll, um sie durch Streit, Glosse, Kommentar zu vergeuden. Ich konzentriere mich auf mein Buch. Es bewegt die Leute, und es ist schon ein Glück, wenn sie bloß eine Zehntelsekunde lang davon bewegt werden.

Ist die Zurückhaltung, mit der Sie Ihre Gefühle äußern, die Zurückhaltung des Journalisten?

Es ist die des Menschen.

In Ihrem Buch fällt auf, wie klar Sie in dem Augenblick sind – als Sie vom Tod Ihrer Frau erfahren. Kann man das in Wirklichkeit überhaupt sein?

Ich habe die Gefühle von Anfang an so angenommen, wie sie kamen. Man muss sie erst annehmen und dann darüber nachdenken und schließlich versuchen, sie zu beherrschen. Aber ich bin kein reiner Geist: Diese Gefühle kommen manchmal zurück, dann fängt alles von vorn an.

Glauben Sie an das Schicksal?

Nein. Das Schicksal nenne ich Zufall. Aber es ist dasselbe.

Das Buch stemmt sich Hass und Wut entgegen. Haben Sie diese Gefühle wirklich nie empfunden?

Natürlich sind sie gekommen. Auch Fragen zur Ungerechtigkeit sind gekommen: Warum Hélène? Warum an diesem Abend, an diesem Ort? All diese Fragen haben mich getroffen. Aber ich weiß, was der Preis ist, wenn man sich auf diese Gefühle einlässt. Auf Hass gibt es keine Antwort. Es gibt keine Antwort darauf. Sie hassen jemanden und denken, dass der Hass aufhört an dem Tag, an dem der Täter verurteilt oder sogar getötet wird. Aber auch dann hört Hass nicht auf.

Manche Menschen scheint er zu entlasten.

Wie lange? Ich will nicht verallgemeinern, ich spreche nur für mich, und ich verstehe gut, dass manche sich damit entlastet fühlen. Doch ich denke, auch wenn die Täter verurteilt worden wären, hätte sich nach wie vor die Frage gestellt: Reicht das? Nehmen wir an, sie wären zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden: Die wirklich lebenslange Strafe existiert nicht. Nehmen wir weiter an, die Todesstrafe wird wieder eingeführt und sie werden getötet: Bin ich ein Mensch, wenn ich jemanden töte, der selber getötet hat? Bin ich ein Mensch, wenn ich mir das wünsche? Aus einer solchen Spirale wäre ich niemals unverletzt herausgekommen.

Antoine Leiris

Der Abend: Am 13. November 2015 werden an fünf verschiedenen Orten in Paris islamistisch motivierte Terroranschläge verübt. Insgesamt sterben 130 Menschen. Im Bataclan-Theater, einem Anschlagsort, wo allein 89 Leute erschossen werden, stirbt auch Hélène, die Frau von Antoine Leiris.

Der Mann: Antoine Leiris, ­Jahrgang 1981, war Kulturredakteur bei den französischen Radiosendern France Info und France bleu. Heute arbeitet er als freier Journalist in Paris.

Das Werk: Das Buch, in dem er erzählt, wie er die Tage nach dem Anschlag erlebte, wurde vor Kurzem auch auf Deutsch veröffentlicht. Antoine Leiris: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, 144 Seiten, 12 Euro, erschienen im Verlag Blanvalet

Wollten Sie im Buch Ihre Wut auch nie zum Ausdruck bringen?

Wut und Hass sind zwei unterschiedliche Sachen. Wut kommt nicht sofort. Vielleicht eines Tages. Aber das Buch wurde sehr schnell veröffentlicht, denn mir wurde während des Schreibens früh klar, dass ich das nicht lange aushalte. Es war zu schwierig. Gleichzeitig war ich glücklich, dass ich durch das Schreiben meinen Kummer zulassen konnte. Und, ganz ehrlich, die Texte über Hélène waren die letzten, die ich geschrieben habe. Danach war ich leer. Ich konnte nicht mehr.

Manche sprechen von einem Roman, Sie eher von einem Tagebuch. Was macht den Unterschied aus?

Die Frage stelle ich mir wirklich nicht. In zehn Jahren werden wir sehen, was das Buch ist, zu welcher Gattung es gehört, ob es eine Eintagsfliege ist oder auch dann noch gelesen wird. Das hängt von seiner literarischen Qualität ab. Es gibt Bücher, die sind wie Blumen, die langsam aufblühen. Andere verwelken schnell.

Hatten Sie bereits vor den Anschlägen vor, Bücher zu schreiben?

Ja, aber ich fand mich zu untalentiert. Mein Erlebnis hat etwas frei gesetzt. Es hat bestimmte Hindernisse umgestoßen. Aber nicht aus eigener Kraft.

Das vorletzte Kapitel heißt „Ende der Geschichte“. Ende welcher Geschichte?

Wollen Sie wirklich die Antwort?

Natürlich. Aber wollen Sie sie auch geben?

Doch. Nein. Na ja. Es ist einfach so.

Was haben Sie jetzt vor?

Ich habe noch nicht angefangen, wieder zu arbeiten. Ich warte noch auf das, was kommt. Das Leben hat beschlossen, teilweise an meiner Stelle Entscheidungen für mich zu treffen. Ich glaube, ich muss das einfach akzeptieren und diesem Weg folgen. Vor kurzem habe ich eine Seite geschrieben. Und es gibt einen Ort, wo ich gern hingehen würde.

Louis Belin, Student aus Frankreich, machte ein Auslandspraktikum in der taz und traf in der Zeit Antoine Leiris in Hamburg

Miguel Ferraz ist freier Fotograf in Hamburg

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