Verkehrswende und Behinderung: „Das ist ausgrenzend“

Auch Projekte der Mobilitätswende können Menschen behindern – das fängt beim Wegfall von Parkplätzen an. Bis jetzt wird darüber wenig gesprochen.

Abblätterndes Rollstuhl-Symbol auf Parkplatzfläche

Menschen mit einer Behinderung werden zu selten als VerkehrsteilnehmerInnen mitgedacht Foto: IMAGO / Zoonar

taz: Frau Bendzuck, wie viele Menschen in Berlin sind in ihrer Mobilität eingeschränkt?

Gerlinde Bendzuck: Das lässt sich nur schätzen. Es gibt eine halbe Million Menschen mit Behinderungen, da sind aber diejenigen nicht dabei, die kein amtliches Feststellungsverfahren zur Ermittlung eines Behinderungsgrads durchlaufen haben. Viele davon, weil sie schon älter und nicht gut vernetzt sind oder den Gang aufs Amt scheuen. Und dann gibt es noch Menschen, die sich ein Bein gebrochen haben, oder Familien mit kleinen Kindern. Insofern ist die Zahl nicht aus der Luft gegriffen, dass ein Drittel aller BerlinerInnen eine mindestens temporäre Mobilitätsbeeinträchtigung hat.

Vor Kurzem hat der Mobilitätsausschuss InklusionsexpertInnen angehört, unter anderem Sie. Deutlich wurde dabei, dass es nicht nur die altbekannten Defizite etwa im ÖPNV gibt, sondern dass die Verkehrswende neue Barrieren schafft – zumindest gibt es diese Sorge. Ein zentraler Aspekt dabei sind Parkplätze. So wird es anscheinend schwieriger, als Mensch mit Behinderung einen individuellen Parkplatz zu bekommen.

Gerlinde Bendzuck (*1967) ist seit 2014 Vorstandsvorsitzende der Landesvereinigung (LV) Selbsthilfe Berlin, dem Dachverband der Berliner Selbsthilfeorganisationen. Beruflich betreibt sie in Berlin das Institut für Kultur-Markt-Forschung (IKMF), daneben ist sie außer bei der LV Selbsthilfe bei weiteren Verbänden engagiert, u. a. im Vorstand der Deutschen Rheuma-Liga Bundesverband. Sie ist auch Teil des Präsidiums des Berliner Behindertenparlaments.

Gerlinde Bendzuck: Anspruch auf einen personengebundenen Parkplatz hat man nur mit dem sogenannten aG-Ausweis, was für „außergewöhnliche Gehbehinderung“ steht. In der Praxis ist die Voraussetzung mindestens eine doppelte Unterschenkelamputation, also schwerste Einschränkungen. Viele Bezirksämter handhaben die Verordnung so restriktiv, dass beispielsweise Menschen mit einer schweren Herzkrankheit, die nur ein paar Schritte gehen können, kaum Chancen auf einen solchen Ausweis haben. Im Rahmen unserer Antidiskriminierungsberatung erfahren wir regelmäßig von solchen Fällen. Und den tausenden von Long-Covid-Betroffenen wird es nicht anders gehen.

Thomas Seerig (*1960) gehört ebenfalls dem Vorstand der LV Selbsthife Berlin an. Er ist Diplom-Kaufmann und im Management eines Trägers der Jugendarbeit tätig, als FDP-Politiker saß er von 1990 bis 1995 sowie von 2016 bis 2021 im Abgeordnetenhaus.

Thomas Seerig: Ich finde die unterschiedliche Genehmigungspraxis der Bezirke sehr fragwürdig. Es kann passieren, dass Sie einen individuellen Parkplatz haben, aber keinen mehr bekommen, wenn Sie in einen anderen Bezirk umziehen. Und es kommt auch dazu, dass eine Straßenverkehrsbehörde den Bedarf anhand der Parkplatzsituation prüft – nach dem Motto: „Wenn es sowieso genug freie Parkplätze gibt, brauchst du keinen eigenen.“ Das führt unter Umständen zu kuriosen Situationen. Ich wohne am Schlachtensee, da habe ich vor meiner Haustür an 315 Tagen im Jahr kein Problem. Ich habe nur eines, wenn das Wetter schön ist. Wenn ich dann überhaupt einen Parkplatz finde, liegt der so weit weg, dass auch Menschen ohne Beeinträchtigung zehn Minuten zu Fuß brauchen. Zugegebenermaßen würde aber wohl auch ein reservierter Parkplatz rücksichtslos zugeparkt werden.

Es liegt an der Praxis der Ämter, nicht an veränderten Zielzahlen oder Ähnlichem?

Thomas Seerig: Das kann schon deswegen nicht sein, weil die Ämter gar keinen Überblick haben. In der letzten Legislaturperiode habe ich als Abgeordneter über den Senat angefragt, wie sich die Anzahl der personengebundenen Parkplätze entwickelt hat. Die Antwort der Bezirke lautete: Wissen wir nicht. Aber wer soll das wissen, wenn nicht das Straßenverkehrsamt? Übrigens müssen Sie für einen personengebundenen Parkplatz auch ein eigenes Auto besitzen. Das schließt die Nutzung von Carsharing aus, und wenn Sie einen freundlichen Nachbarn haben, der Sie öfters mal fährt, gilt das auch nicht.

Gerlinde Bendzuck: Es betrifft auch viele, die Eingliederungshilfen beziehen – Menschen, die in der Einkommensfalle stecken, weil sie vielleicht eine psychische Erkrankung haben und nun aufgrund ihrer Erkrankung in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind. Viele haben mal den Führerschein gemacht und sind auch fahrfähig, haben aber schon wegen der Anrechnung von Einkünften und Vermögen große Probleme, ein Fahrzeug zu halten bzw. zu erwerben. Auch wenn sie sich im ÖPNV unwohl fühlen, weil es dort eng ist und unvorhergesehene Situationen auftreten, haben sie nach geltender Gesetzgebung bzw. -auslegung 0,0 Chancen auf einen personengebundenen Parkplatz.

Nun wollen diejenigen, die einen individuellen Parkplatz genehmigt bekommen haben, mit ihrem Auto ja auch irgendwo hinfahren. Am Arbeitsplatz haben sie vielleicht noch eine sichere Abstellmöglichkeit, aber nirgendwo sonst. Wenn ich es richtig verstehe, macht Ihnen deshalb der Trend zum Kiezblock Sorgen.

Gerlinde Bendzuck: Unter den übrigen Aspekten – Sicherheit für zu Fuß Gehende, Aufenthaltsqualität, Klimaschutz – sind Kiezblocks eine super Idee. Aber wenn man sich als Mensch mit einer Behinderung in der ganzen Stadt autonom und spontan bewegen will, möchte man natürlich auch Menschen in diesen Kiezblocks besuchen. Im Rahmen der Sozialmobilität braucht es in diesen geschützten Räumen geregelte Bedingungen für Personengruppen, die darauf angewiesen sind. Das gilt natürlich auch für andere Kfz-Fahrende, etwa Pflegedienste. Für sie alle sollte es ein niedrigschwelliges Antragsverfahren geben. Bislang haben wir weder von der Senatsverwaltung noch von den Bezirken konkrete Angaben bekommen, wie das geregelt werden kann, bevor diese Projekte starten. Aber diese Lernprozesse dürfen nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden.

Thomas Seerig: Dass viele Anwohnende in solchen Zonen auf Parkplätze angewiesen sind, ist vielleicht in der Verkehrsverwaltung angekommen. Das Problem des gelegentlichen Verkehrs, ob für ein privates Treffen oder einen Praxisbesuch, noch nicht so ganz.

Gerlinde Bendzuck: Da werden benachbarte Parkhäuser angemietet – alles schick für die meisten, aber verschiedene sehr vulnerable Zielgruppen fallen hinten runter. Ich halte das für einen Diskriminierungstatbestand, gegen den Verbände wie unserer übrigens in Bezug auf Vorenthaltung angemessener Vorkehrungen klagen können.

Was ich noch gelernt habe: Für Menschen mit Behinderung, ob sie nun selbst Auto fahren oder gefahren werden, kann es ein Problem sein, wenn Hauptstraßen mit geschützten Radspuren ausgestattet werden und die Haltemöglichkeiten wegfallen.

Gerlinde Bendzuck: Ja, und wer wohnt an so einer vielbefahrenen und lauten Hauptstraße? Wieder mal die nicht so Zahlungskräftigen, die anderswo nichts finden. Ich selbst bin übrigens begeisterte Nutzerin der Protected Bike Lanes, ich habe ein elektrisches Zuggerät für meinen Rollstuhl. Aber wenn ich mich in die Anfangsjahre meiner rheumatischen Erkrankung zurückversetze … In Berlin gibt es rund 70.000 Menschen mit entzündlichen rheumatischen Erkrankungen, dazu kommen degenerative Erkrankungen, 10 Prozent der Gesamtbevölkerung haben Arthrose – da tut jeder Schritt weh, da sind 200 Meter eine lange Strecke. Wenn ich dann an so einer Straße wohne und man sagt mir, na, du musst ja nur zweimal um die Ecke, da ist vielleicht ein Parkplatz für dich, dann ist das ausgrenzend.

Finden Sie es ableistisch, wenn die Fans der Verkehrswende stattdessen die gesundheitlichen Vorzüge des Radfahrens preisen?

Gerlinde Bendzuck: Sagen wir, sie denken nicht weit genug. Sie sehen das Klimathema, sie sagen: Je mehr Radkilometer, desto besser – alles richtig. Aber dass dabei sehr vulnerable Menschen in ihrer Teilhabe eingeschränkt werden, das muss in Berlin 2023 nicht sein.

Thomas Seerig: Es fehlt mir auch der Blick aus der Friedrichshain-Kreuzberger Bubble heraus auf die Stadtteile außerhalb des S-Bahnrings. Wo die ÖPNV-Versorgung schlechter ist, wo Busse seltener fahren, wo es nicht überall Nachtbusse gibt. Für jemanden wie mich, der dort wohnt und sozusagen kurz vor dem Rollstuhl ist, ist das Auto auf dem ersten und dem letzten Kilometer unverzichtbar. Ich will nicht warten, bis ich vielleicht irgendwann einen Elektrorollstuhl habe und dann damit die 800 Meter zum Mexikoplatz oder zur Krummen Lanke rollen kann.

Was fordern Sie?

Gerlinde Bendzuck: Wir bräuchten beispielsweise ein Fast-Track-Verfahren für allgemein zugängliche Behindertenparkplätze vor Einrichtungen von öffentlichem Interesse – wie Gesundheit und Dienstleistungen. Eine Praxis oder eine Firma müssen sich niedrigschwellig, zeitnah und ohne übermäßige Gebühren darum bemühen können. Eine weitere Säule wäre eine ordentliche Rücksichtskampagne für die Personengruppen mit besonderen Schutzbedürftigkeiten. Man darf auch gerne innovativ denken: Warum nicht mehr Tiefgaragen bauen oder ausweisen, wo Parkplätze für beeinträchtigte Menschen kostenfrei vorgehalten werden, wenn in unmittelbarer Nähe keine Parkflächen realisiert werden können, weil Fahrradwege oder einspurige Straßenführung dies verhindern? Gut finde ich, dass die Senatorin sagt, es werde insgesamt weniger Parkplätze geben, es müsse aber darüber geredet werden, wem diese Parkplätze bevorzugt zur Verfügung stehen.

Thomas Seerig: Frau Jarasch preist ja die Vorzüge von versenkbaren Pollern für die Kiezblocks. Meine ganz persönliche innovative Idee wäre es, die Behindertenparkausweise mit einem Chip zu versehen, der diese Poller versenkt. Wir könnten auch Behindertenparkplätze mit Bügeln gegen Falschparker ausstatten, die sich mit diesem Chip absenken lassen.

Zurzeit arbeitet die Verkehrsverwaltung unter Beteiligung der Verbände an einem inklusiven Mobilitätssicherungskonzept, was erhoffen Sie sich davon?

Gerlinde Bendzuck: Dieses Konzept steht jetzt schon zum zweiten Mal im Koalitionsvertrag. Es geht dabei darum, die reibungslose Mobilität auch von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten – dass Mobilitätsketten über verschiedene Verkehrsformen hinweg entstehen können, mit Unterstützungs- und Kommunikationsdienstleistungen. Wahrscheinlich muss man gar nicht so viele neue Angebote schaffen, sondern punktuell den Service und die Kommunikation verbessern oder eine Verbindung zwischen Angebot A und Angebot B schaffen. Es geht darum, sich noch einmal durch die Schwarmintelligenz der Betroffenen und ihre Interessenvertretungen zu versichern, wo die wichtigen Handlungsfelder sind. Dann gilt es, Maßnahmen zu priorisieren und das beginnend mit dem Haushalt 2024/2025 einzupreisen.

Thomas Seerig: Ich verbinde damit natürlich die Hoffnung, dass die Thematik künftig noch besser in den Köpfen der Umsetzenden verankert ist. Ich habe gerade erst wieder das Gegenteil erlebt: Die AG Menschen mit Behinderungen der Verkehrsverwaltung teilte mit, für die Dauer der Special Olympics plane man, Bus- und Tramlinien für Menschen mit kognitiver Einschränkung leichter identifizierbar zu machen. „Für die Dauer der Spiele.“ Das kann doch nicht wahr sein!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.