Verkehrspolitik: Dem Schilderwald droht die Abholzung
Drei Brandenburger Städte erarbeiten ein Konzept, bei dem der Verkehr ohne Schilder geregelt wird. Das EU-Projekt soll offenbar zu sinkenden Unfallzahlen führen. Die Grünen wollen "Shared Space" auch in Berlin.
Breit und großzügig soll die Cottbusser Straße künftig quer durch die Calauer Innenstadt führen, mit übersichtlichen Kreuzungen und gleichberechtigtem Platz für die Verkehrsteilnehmer. Vorfahrtsschilder, Ampeln und Bordsteinkanten haben in der Vision keinen Platz mehr: Calau ist eine von drei Brandenburger Modellstädten des EU-Projekts "Shared Space". Ziel des Vorhabens ist es, sämtliche Schilder entlang der Hauptstraße abzubauen, damit Unfällen vorzubeugen und die Attraktivität von Zentren zu beleben. Was in Brandenburg beschlossen ist, wollen die Grünen auch für Berlin durchsetzen. Anfang der Woche reichte die Fraktion einen Antrag im Abgeordnetenhaus ein.
In Calau, gut 25 Kilometer westlich von Cottbus, hätten sich die Bewohner nach anfänglichem Zögern für "Shared Space" begeistern lassen, sagt Bauamtsleiterin Margitta Görs. Die Cottbusser Straße ist die Hauptgeschäftsstraße in dem Ort mit 6.000 Einwohnern, mehrere Kreuzungen liegen auf dem Projektabschnitt. Görs erhofft sich vor allem eine Stärkung der Innenstadt. "Bislang läuft da viel über Einbahnstraßenregelung, das ist für Auswärtige äußerst ungünstig." Ohne Schilder seien die Geschäfte leichter zu erreichen, außerdem mache der Aufenthalt im Zentrum Bewohnern und Besuchern mehr Spaß.
Die Theorie, dass Verkehrsteilnehmer ohne Schilder am Straßenrand weniger Unfälle verursachten, werde kontrovers diskutiert, bekannte die Bauamtsleiterin. "Die Älteren sind eher skeptisch, die Jüngeren eher positiv eingestellt." Derzeit lässt die Stadt eine Machbarkeitsstudie erstellen, sie soll nächstes Jahr beim Land abgegeben werden.
Neben Calau hatten Luckenwalde und Potsdam im Sommer den Zuschlag für "Shared Space" und damit je 10.000 Euro für eine Machbarkeitsstudie erhalten. Potsdam will die Kreuzung Paul-Neumann-Straße, Althoff- und Pestalozzistraße in Babelsberg vom Schilderwald befreien; eine Studie dazu sei in Arbeit, sagte ein Sprecherin der Stadt.
Luckenwaldes Tiefbauamtsleiter Jürgen Schmeier sieht die Stadt ebenfalls auf einem guten Weg. "Bei der ersten Versammlung war der Ton noch verschärft, inzwischen sind die Einwohner sehr aufgeschlossen." Schmeier verweist auf die demografische Entwicklung - in der Kreisstadt von Teltow-Fläming leben noch knapp 21.000 Menschen, mehr als 15 Prozent weniger als in den 1990er-Jahren. Der Verkehr nehme demzufolge ohnehin ab und biete die Chance, neue Wege zu gehen. Luckenwalde hat mehrere Straßenabschnitte ausgesucht, um Bürgersteige einzuebnen, Fahrbahnmarkierungen zu löschen, Schilder und Ampeln abzumontieren.
"Shared Space" wird europaweit von sieben Städten umgesetzt, dabei ist das niedersächsische Städtchen Bohmte. Seit dem Frühjahr läuft der Durchgangsverkehr dort ohne regelnde Schilder. "Jeder Euro, den wir investiert haben, hat sich gelohnt", zieht eine Sprecherin der Stadt Bilanz. "Die Unfallzahlen sind spürbar zurückgegangen, der Verkehr rollt ruhig und stetig, es ist nicht mehr so laut."
So stellt sich das wohl auch die Berliner Grünen-Abgeordnete Claudia Hämmerling vor. Sie möchte an Teilen der Friedrichstraße, der Karl-Marx-Straße und der Kastanienallee "Shared Space" einführen. Allerdings: Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung hat bereits ihre ablehnende Haltung signalisiert - im Innenstadtbereich sei das Prinzip nicht sinnvoll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga