Verhülltes Schloss: Wolfsburgs Skyline verfremdet
Bettina Pousttchi lässt in ihrem Projekt "The City" die Fassade des Wolfsburger Renaissance-Schlosses hinter Planen mit Hochhausmotiven verschwinden.
WOLFSBURG taz | Stand hier nicht mal das Schloss?, fragen derzeit irritierte Besucher, die sich der historischen Wolfsburg nähern. Grund ihrer Bestürzung ist die Verhüllung der Nordfront durch eine 2.150 Quadratmeter große Plane – bedruckt mit den nahtlos aneinander geschobenen Fassaden diverser Hochhäuser. Andere Besucher wiederum vermuten, dass das Schloss durch einen Umbau eben die hier abgebildete Gestalt annehmen soll. So sieht es also aus, wenn’s fertig ist!, meinen sie deshalb, eine weitere Bau-Eskapade von Wolfsburgs Stadtplanern wohl antizipierend.
Die Fassaden-Verhüllung des Schlosses hat Bettina Pousttchi ersonnen. Pousttchi ist diesjährige Preisträgerin des Kunstpreises „Junge Stadt sieht Junge Kunst“. Diese Auszeichnung wird seit 1959 mit einigen Zäsuren und inhaltlichen Neuausrichtungen im Dreijahresrhythmus von einer unabhängigen Jury auf Vorschlag der Städtischen Galerie Wolfsburg an Künstlerinnen oder Künstler in der Mitte der Karriere verliehen, die mit ihrem bisherigen Werk bereits überregionale Aufmerksamkeit erlangt haben. Mit einem Preisgeld, einer ortsbezogene Einzelausstellung und einer umfassenden Publikation soll im Idealfall ein weiterer Karriereschub initiiert werden.
Die deutsch-iranische Künstlerin Bettina Pousttchi, 1971 in Mainz geboren und in Berlin ansässig, ist allerdings schon lange international etabliert. Sie hat in Paris, danach unter anderem bei Gerhard Merz an der Kunstakademie Düsseldorf sowie in Köln und New York studiert.
Auch ihre Ausstellungen bewegen sich auf internationalem Parkett: Zweimal war sie auf der Biennale Venedig vertreten, und zurzeit ist eine Ausstellung ihrer Werke in Dallas. Immer geht es Pousttchi in ihren Arbeiten um die Irritation, die aus künstlerischen Eingriffen in unsere gewohnte Umgebung entsteht. In Dallas etwa verwandelt sie den Innenraum des Nasher Sculpture Center mit Hilfe von Asphaltbelag und Straßenmarkierungen in ein Drive-Thru Museum – vielleicht ja auch eine leise Kritik an städtebaulichen Konzepten, die immer menschenfeindlicher werden.
Aufmüpfige Poller
In Wolfsburg sind es ihre aufmüpfigen Gruppen deformierter und zusammengerückter Absperr-Poller, die sie liebevoll Karl, Viktoria oder Ida nennt. Anderswo transformiert sie konstruktive Elemente historisch europäischen Fachwerks in glasierte Keramik. Bei Pousttchis iranischen Wurzeln nahe liegend, rufen diese aber auch Assoziationen an Maschrabiyyas wach –jene dekorativen Holzgitter, die im arabischen und persisch-iranischen Raum als Fenster vor Häuser und Paläste gesetzt werden.
Daneben arbeitet Pousttchi mit den Medien Video und Fotografie. Für ein weltumgreifendes Projekt etwa flog sie zwischen 2008 und 2014 rund um den Globus, um in jeder Zeitzone eine öffentliche Uhr mit der Zeigerstellung „fünf vor zwei“ zu dokumentieren. Diese Zeigerstellung belegt natürlich nichts, außer einer optischen Simultanität.
Highlight ihrer Wolfsburger Ausstellung ist allerdings die Installation an der Schlossfassade. Sie spielt mit der Simulation vor Ort. Eine solche visuelle Argumentationshilfe wird oft eingesetzt, um Rekonstruktionen oder andere problematische Baumaßnahmen populär zu machen. Erinnert sei etwa an die Fassadentapete in bester Trompe-l’oeil-Manier, die 1993/94 allen Skeptikern die städtebauliche Wirkung des Berliner Stadtschlosses nahe bringen sollte.
Architektonische Überformungen
Allerdings kehrt Pousttchi den Prozess in ihrer aktuellen Ausstellung um. Wolfsburg, die wohl prominenteste Gründungsstadt des 20. Jahrhunderts in Europa, kam bislang ja nicht in die Verlegenheit, irgendein Baudenkmal wiederauferstehen zu lassen. Pousttchi lässt stattdessen den ältesten Bau Wolfsburgs – sein Schloss – optisch verschwinden. Dieser Bau, 1302 erstmals urkundlich erwähnt und mit architektonischen Überformungen in schönster Weserrenaissance versehen, bedarf derzeit einer Sanierung der Nordfront. Ein 35 Meter hohes Fassaden-Gerüst ist technische Basis der Chimäre.
Bettina Pousttchis Fotocollage repräsentiert 100 Jahre Architekturgeschichte der Moderne anhand aktueller sowie früherer Ikonen weltweiter Hochhaus-Architektur. Sie vereint die zum Erbauungszeitpunkt jeweils höchsten Gebäude der Welt zu einer globalen Silhouette. Da stehen dann die ehemaligen Twin Towers aus New York neben dem knapp 830 Meter hohen Burj Khalifa aus Dubai, der seinen derzeitigen Superlativ demnächst an den rund einen Kilometer hohen Kingdom Tower in Saudi Arabien abgeben muss. Digitale Fotos dieser Gebäude, entnommen professionellen Online-Archiven, hat Pousttchi zu vergröbernd schwarzweißen plakativen Schraffurbildern reduziert. Sie spielen mit dem handwerklich abstrahierenden Habitus historischer Vedutenstiche, wollen also gar nicht als wirklichkeitsgetreu gelesen werden.
Unterschiedliche Maßstäbe der Teilfassaden unterstreichen zusätzlich die fiktionale Absicht jenseits realistischer Simulation, und sichtbare Konstruktionsteile des Gerüsts brechen jede Illusion. Trotzdem scheint die leichte Ironie dieser Fata Morgana nicht immer als solche erkennbar zu sein, wie die Besucher-Kommentare zeigen. Bleibt abzuwarten, ob sich die Skyline als Wolfsburg-adäquate Kulisse für Schützenaufzüge und Hochzeitspaare erweisen wird, die sich ja gerne vor geschichtsträchtigen Gemäuern in Szene setzen.
Bettina Pousttchi, „The City“ am Schloss Wolfsburg sowie in der dortigen Städtischen Galerie: bis 28. September
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland