Verhältnis zwischen EU und USA: Schock und Fassungslosigkeit

Die EU hofft auf Joe Biden. Doch es ist fraglich, ob der sich viel Zeit nehmen wird für Europa und eine neue Ära der transatlantischen Freundschaft.

Flagge der Vereinigten Staaten weht im Hintergrund sind Flaggen der Europäischen Union zu sehen

Fähnchen im Wind? Ob Joe Biden Zeit für die EU haben wird bleibt fraglich Foto: Francois Lenoir/reuters

Josep Borrell konnte es kaum fassen. „Dies ist nicht Amerika“, twitterte der EU-Außenbeauftragte in der Chaos-Nacht von Washington. Auch Ratspräsident Charles Michel war fassungslos: „Die Szenen von heute Nacht zu beobachten, ist ein Schock.“ Der „Tempel der Demokratie“ – gemeint war der US-Kongress – dürfe nicht angetastet werden. Dass es doch geschah, sogar mit Rückendeckung von Noch-Präsident Donald Trump, ist für viele EU-Politiker ein traumatisches Erlebnis. Der Sturm auf das Kapitol hat ihr Amerika-Bild angekratzt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte noch in der Krawallnacht, sie glaube „an die Stärke der US-Institutionen und der Demokratie“.

Auch dass Trump den Aufstand offenbar vom Weißen Haus aus steuerte, ist für die EU ein Schock. Bisher kamen Fake News und Desinformation immer nur aus dem Kreml in Moskau. Nun müssen die EU-Strategen umdenken: Auch der US-Präsident kann Lügen verbreiten und Unruhe stiften.

Die größten Sorgen macht man sich in Brüssel aber um Trumps Amtsnachfolger Joe Biden. Die EU hat Biden bereits zu einem virtuellen Gipfeltreffen eingeladen und eine umfangreiche Agenda aufgesetzt. Von der Leyen und Borrell hoffen auf eine neue Ära transatlantischer Freundschaft. Fraglich ist, ob Biden überhaupt Zeit finden wird, sich mit Europa zu beschäftigen.

Biden muss heilen

Wenn sich die Krise in den USA nicht beruhigt, könnte der nächste US-Präsident gezwungen sein, sich auf die Innenpolitik zu konzentrieren und die Wunden der Trump-Ära zu heilen. Die EU würde dann nur noch die zweite Geige spielen, wenn überhaupt. Diplomaten in Brüssel gehen davon aus, dass sich auch der Neue im Weißen Haus vor allem auf China konzentrieren wird – genau wie Trump. Die Europäer werden um den erhofften Neustart kämpfen müssen.

Die EU-Kommission und die 27 Mitgliedstaaten gehen bereits in die Offensive. Sie haben Washington eine „transatlantische Agenda“ für die globale Zusammenarbeit vorgeschlagen. Ganz oben auf der Liste stehen der Klimaschutz und der Kampf gegen Corona. Beides hatte Trump verschmäht, Biden soll für den Schulterschluss sorgen. Die Europäer hoffen aber auch auf ein Ende der US-Strafzölle und auf eine gemeinsame Reform der Welthandelsorganisation WTO. Zudem wollen sie die Spannungen in der Nato beilegen und Biden mit einer kräftigen Erhöhung der Verteidigungsausgaben entgegenkommen. Vor allem Deutschland sei hier gefordert.

Doch ausgerechnet das größte EU-Land sorgte zuletzt für Ärger. Das Investitionsabkommen mit China, das Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor dem Ende des deutschen EU-Vorsitzes einfädelte, könne Biden vor den Kopf stoßen, sagen Kritiker in Warschau und Washington. Auch die Gaspipeline Nord Stream 2 bleibt ein Zankapfel.

Und dann sind da noch die deutsch-französischen Spannungen über die weitere Strategie. Merkel und Von der Leyen wollen die EU wieder auf die USA einschwören. Demgegenüber besteht Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron darauf, dass die EU den unter Trump eingeschlagenen Kurs der „strategischen Autonomie“ fortsetzt. Europa müsse sich von Amerika unabhängiger machen, denn niemand könne wissen, was nach Biden kommt.

Zunächst muss die EU aber in den eigenen Reihen aufräumen. Polen, Ungarn und Slowenien hatten Trump bis zuletzt die Stange gehalten. Nun müssen auch sie von ihrem Idol Abschied nehmen.

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Am 3. November 2020 haben die USA einen neuen Präsidenten gewählt: Der Demokrat Joe Biden, langjähriger Senator und von 2009 bis 2017 Vize unter Barack Obama, hat sich gegen Amtsinhaber Donald Trump durchgesetzt.

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