: Vergessene Debatte
■ William David Jones rekonstruiert die Anfänge linker Totalitarismuskritik
Dieses Buch war überfällig. Bei linken Anhängern eines Totalitarismuskonzepts wird es sicher rasch Aufnahme finden; die Darstellung der Geschichte des linken Antitotalitarismus hat jedoch eine Bedeutung, die weit über dieses Milieu hinaus reicht.
Der US-Autor Jones rekonstruiert theoretische Positionen bzw. Traditionen, auf die sich aktuelle Bemühungen um Diktaturanalyse mit Gewinn stützen können. Gleichzeitig macht er – eher gegen seinen Willen – auch ihre Beschränkungen sichtbar.
Beschrieben wird die Geschichte von – vornehmlich aus dem nationalsozialistischen Deutschland vertriebenen – linken Intellektuellen, die in ihrer Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und – weit weniger – Stalinismus begannen, Kategorien für die Beschreibung terroristischer Einparteiendiktaturen zu finden. Sie wurden nicht nur von der herrschenden Lehrmeinung der Politikwissenschaft im Kalten Krieg, sondern auch von ihren linken Kritikern – genannt werden Wolfgang Wippermann, Reinhard Kühnl und Eike Henning – ignoriert.
Jones referiert deshalb in seiner die Jahre von 1928 bis 1950 umspannenden historischen Darstellung vergessene Bücher und Aufsätze u.a. von Rosa Luxemburg, Franz Borkenau, Richard Löwenthal, Karl Korsch, Otto Rühle, Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel, Max Horkheimer, Theodor Adorno, Herbert Marcuse und stellt sie in ihren historischen Kontext. Ältere taz-Leser werden mit erheblichen Teilen ihres möglicherweise bereits verstaubten Bücherschrankes konfrontiert.
Sichtbar wird dabei, wie verschieden und vorsichtig der Zugang und die Beurteilung dieser Weimarer Autoren zur Analyse von Nationalsozialismus und Stalinismus letztlich blieb. Eine der wenigen Brücken zu einer vergleichenden Diktaturbeschreibung bildete z.B. die Bonapartismusanalyse von Karl Marx. Erst die Berufung auf diese kanonisierte Darstellung eines sich über die Klassenverhältnisse erhebenden Staates, der Verweis von Marx selbst auf eine von der Ökonomie partiell unabhängige Politik bot vielen linken Intellektuellen einen Weg zum Diktaturvergleich.
Da Jones unbedingt die Tradition linker Kritik an Nationalsozialismus und Stalinismus für heute beerben will, sich voller Ehrfurcht den Arbeiten der Weimarer Intellektuellen nähert, kann er die Ergebnisse seiner Recherche nicht richtig ausschöpfen. Den durch Teile der marxistisch-leninistisch und trotzkistischen Tradition getrübten Blick dieser Intellektuellen kann er nicht selbst kritischer Reflexion unterwerfen. Keine Zeile ist ihm z.B. die Frage wert, warum in den referierten linken Stalinismus- und Nationalsozialismuskritiken der Mord an den europäischen Juden und die sowjetischen Lager kaum vorkommen.
Diese Halbheiten des Buches von Jones sind sehr bedauerlich, denn die Rekonstruktion der historischen Anfänge linker Nationalsozialismus- und Stalinismuskritik ist einer der wesentlichen Schlüssel für die aktuelle Auseinandersetzung über die Halbheiten der westlichen 68er-Linken im Umgang mit den osteuropäischen Diktaturen.
Der US-Autor sieht das ganz anders. Er glaubt, die Aktualität des linken Antitotalitarismus läge in seiner Skepsis gegenüber Kapitalismus und westlicher Demokratie. Ausgerechnet eine der verzweifeltsten Schriften von Horkheimer und Adorno („Dialektik der Aufklärung“), in der sie den Totalitätsanspruch abendländischen Vernunftdenkens selbst zur Ursache des Faschismus erklären („Aufklärung ist totalitär“), sieht Jones als beerbbare Analyse. Dieser „linke Antitotalitarismus“ kommt damit – sicher ungewollt – dem grassierenden Kulturpessimismus sehr nahe. Martin Jander
William David Jones: „The Lost Debate – German Socialist Intellectuals and Totalitarianism“. University of Illinois Press 1999. 358 Seiten. 39,96 DM
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