Vergangenheitsaufarbeitung in Litauen: Verbrechen der Sowjetunion vor Gericht
Ein Litauer wird vom Vorwurf freigesprochen, die Opfer der Zusammenstöße zwischen Roter Armee und Demonstranten am "Blutsonntag" 1991 diffamiert zu haben.
STOCKHOLM taz | Loreta Asanaviit wurde von einem sowjetischen Panzer überrollt, der 17-jährige Ignas Simulionis starb an einem Kopfschuss, Darius Gerbutaviius wurde von fünf Kugeln getroffen. Als "Blutsonntag" ging der 13. Januar 1991 in die Geschichte Litauens ein. Die gerade errungene Unabhängigkeit des Landes von Moskau war gefährdet. Am TV-Turm in Vilnius kam es zur Konfrontation zwischen sowjetischem Militär und Tausenden DemonstrantInnen. 15 Menschen wurden getötet. Darunter ein sowjetischer Offizier durch die Kugel eines eigenen Kameraden. Ein Mann starb während der Zusammenstöße an einem Herzinfarkt.
Der Vorsitzende von Litauens sozialistischer Volkspartei, Algirdas Paleckis, hat Zweifel, ob die übrigen 13 LitauerInnen wirklich Opfer der sowjetischen Armee wurden. Diese äußerte er 2010 in einem Radiointerview: Sie seien womöglich von eigenen Landsleuten erschossen worden.
Als Belege dafür nannte er angeblich zu steile Schusswinkel und die Verwendung von Jagdmunition. Es habe Provokateure in den eigenen Reihen gegeben, denen die Konfrontation mit der Sowjetarmee zupass gekommen sei, um das sowjetische Feindbild zu bestätigen. Diese Behauptungen waren zwar schon vor Jahren in einem Buch geäußert worden, widersprechen aber allen bisherigen offiziellen Untersuchungsergebnissen.
Als kontroverser oder unsinniger Beitrag in der öffentlichen Debatte hätten Paleckis Äußerungen abgehakt werden können - doch nicht in Litauen. Hier hatte das Parlament im Juni 2010 ein Gesetz verabschiedet, das für jedes "Unterstützen, Gutheißen oder Verharmlosen von Verbrechen der Sowjetzeit oder Nazideutschlands gegen die Republik Litauen" mit Haftstrafen von bis zu zwei Jahren vorsieht. Paleckis war der Erste, den die Staatsanwaltschaft deswegen anklagte.
Bewährung gefordert
Das Gericht in Vilnius tat sich offensichtlich schwer. Das Verfahren dauerte mehr als ein Jahr. Paleckis betonte, er habe nie die Verbrechen der Sowjetführung bestreiten wollen, die Panzer gegen Volksmassen hätte auffahren lassen. Trotzdem müsse es erlaubt bleiben, zu den Vorkommnissen eine andere als die offizielle Meinung zu haben. Für Paleckis engagierten sich auch Menschenrechtsgruppen, die sich von dessen Bild über die Ereignisse des 13. Januar 1991 ausdrücklich distanzierten.
Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe auf Bewährung. Nun erging das Urteil: Freispruch. Die Begründung: Paleckis habe offenbar keine Absicht gehabt, die Opfer des "Blutsonntag" zu diffamieren. Damit seien seine Interviewäußerungen durch das in der UN-Menschenrechtserklärung verankerte Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt gewesen. Die Staatsanwaltschaft kündigte an, in Berufung gehen zu wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo