Vergänglichkeit von Speichermedien: Das Gedächtnis im Berg
Das Internet vergisst sehr wohl und auch digitale Speicher werden unlesbar. Martin Kunze sammelt deshalb das Weltwissen in einem alten Bergstollen.
M it einem Ruck setzt sich die Grubenbahn in Bewegung und taucht in die Dunkelheit ein. Ein alles übertönendes Brummen setzt ein, das die nächsten drei Minuten nicht aufhören wird. In Schrittgeschwindigkeit rollt der kleine Zug durch einen nicht endenden wollenden Stollen. Etwa alle zehn Meter erhellt ein Scheinwerfer die Wände. Es sieht aus, als würde man durch weiße Ringe fahren.
Die Wände, am Anfang noch hier und da von Moos bedeckt, später ganz kahl, glitzern silbrig im Licht der Scheinwerfer. Je weiter man sich vom Eingang entfernt, desto kühler wird es. Nach ungefähr 500 Metern Fahrt öffnet sich der Tunnel, die Wände sind hier mit Holz vertäfelt. Der Wagen wird langsamer und kommt zum Stehen. Das Ziel ist erreicht.
Hier, tief im Inneren des ältesten bekannten Salzbergwerks der Welt in Hallstatt, Oberösterreich, entsteht seit zehn Jahren ein analoges Archiv für die Menschheit. Analog deshalb, weil es Jahrtausende überdauern soll. Viele digitale Datenträger haben eine kurze Lebensdauer, bei einem USB-Stick reicht ein Bitfehler, und die darauf gespeicherten Dateien können nicht mehr gelesen werden. Oder Datenträger werden unbrauchbar, weil die Technik fehlt, um sie auszulesen. Kaum jemand kann heute eine Videokassette aus dem Sommerurlaub 2002 anschauen.
Könnte es sein, dass in Zukunft kein Wissen mehr über unsere Zeit vorhanden sein wird? Informatiker:innen sprechen von einem „digital dark age“, einem dunklen digitalen Zeitalter also. Vint Cerf, der als „Vater des Internet“ bezeichnet wird und heute Vizepräsident von Google ist, behauptet, im nächsten Jahrhundert würde kein „digitales Artefakt“ der heutigen Zeit noch lesbar sein. Aus diesem Grund wurde das Archiv im Bergwerk gegründet. Das Wissen, das für künftige Generationen von Bedeutung sein könnte, soll dort analog eingelagert werden.
Keine leichte Aufgabe. Vor allem, wenn sie nur von einem einzigen Mann erledigt wird.
Wissen in Kisten aus Ton
„Glückauf, griaßt’s eich!“ Martin Kunze steigt von dem Wagen ab und begrüßt die Mitarbeiter:innen des Bergwerks, die den Zug in Empfang genommen haben. Normalerweise führen sie Tourist:innen durch den Stollen. Wenn Martin Kunze spricht, betont er manche Vokale etwas länger als gewöhnlich, seinen Dialekt ist der gebürtige Wiener in über zehn Jahren in Oberösterreich nicht losgeworden. Kunze hat eigentlich nichts mit Archiven zu tun. Er ist Keramikkünstler. Vor einigen Jahren las er von der antiken Indus-Hochkultur, deren Schrift bis heute nicht entziffert werden kann, weil nicht genug Schriftwerke überliefert sind. Kunze sagt, er wolle verhindern, dass das Gleiche eines Tages mit unserer Gesellschaft passiert. „Mir ist wichtig, dass zukünftige Generationen einen Einblick in das frühe 21. Jahrhundert haben“, sagt er.
Wenn man Kunze zuhört, glaubt man ihm sofort, dass er eine Mission hat. Die Frage ist, inwieweit seine Mission auch ein gutes Geschäft ist. Ein paar Meter von der Endstation der Grubenbahn entfernt steht Kunzes Archiv, unscheinbar an der Wand des Stollens. Das „Memory of Mankind“, also „Gedächtnis der Menschheit“, kurz: MOM. Viel ist davon bisher noch nicht zu sehen. Spärlich beleuchtet von einer einzelnen Glühbirne, stapeln sich etwa 100 gelbe Kisten aus Ton. Sie erinnern an längliche Blumenkästen. In den Kisten liegen, sorgfältig aneinander gelehnt, Hunderte Keramiktafeln, über 900 sind es aktuell. Beim Durchblättern der „besseren Badezimmerfliesen“, wie Kunze die Tafeln nennt, fühlt man sich wie in einem Plattenladen. Nur dass die Platten hier 20 mal 20 Zentimeter messen, 700 Gramm wiegen und bedruckt sind.
Kunze tritt an eine Kiste heran und nimmt zwei Tafeln raus. Die eine ist vollständig mit Text bedeckt, auf der anderen sind Fotos abgebildet: Menschen in Ganzkörperschutzanzügen, eine Landkarte von China, alles in Farbe. Es handelt sich um einen Artikel aus der New York Times vom 27. Januar 2020. Berichtet wird über ein neuartiges Virus in China. Für Kunze ein wichtiges Zeitdokument, das es aufzubewahren gilt.
So soll also das Archiv der Menschheit aussehen. Tontafeln in Tonkisten. Ist das nicht ein wenig veraltet? „Unsere digitalen Daten überleben keine Jahrhunderte, im Prinzip ist irgendwann alles weg“, warnt Kunze. Denn für unsere jetzigen Datenträger fehlt teilweise schon nach 20 Jahren die Technik, um sie auszulesen, die technische Entwicklung schreitet für manche Archive zu schnell voran. Die Nasa hat zum Beispiel die Daten aus ihrer „Viking“-Mission beinahe verloren. Im Jahr 1976 schickte sie zwei Sonden auf den Mars, um Bodenproben zu entnehmen. Die Daten wurden auf Mikrofilmen gespeichert und konnten nur mit sehr viel Aufwand Jahrzehnte später digitalisiert werden. Ein Aufwand, der für die meisten alten Mikrofilm-Datenträger zu groß sein dürfte.
Martin Kunze, Keramikkünstler und Archivar
Außerdem gehen manche Speichermedien mit der Zeit einfach kaputt. Auch hier hat die Nasa Erfahrung: Einige ihrer alten Magnetbänder fielen magnetischen Strömungen zum Opfer. Zusätzlich brauchen digitale Archive Strom, sehr viel sogar. Die etwa 50.000 Rechenzentren, die es in Deutschland gibt, haben im Jahr 2018 ungefähr 14 Terawattstunden Strom verbraucht. Das entspricht dem jährlichen Stromverbrauch der Stadt Berlin. Die digitale Datenspeicherung ist nicht nur eine enorme Umweltbelastung, sondern birgt auch die Gefahr, dass die Daten irgendwann verschwinden, wenn der Strom abgestellt wird. Etwa in Folge eines Krieges, wie aktuell in der Ukraine, oder einer Umweltkatastrophe. Oder viel simpler: Unter US-Präsident Trump wurde das Budget der Umweltbehörde EPA gekürzt. Die Behörde musste deshalb Datenbanken mit Klimamesswerten vom Netz nehmen. Ironischerweise könnte es so passieren, dass man über das 21. Jahrhundert, die vermeintlich am besten dokumentierte Zeit der Menschheitsgeschichte, irgendwann nichts mehr wissen wird.
Um dem entgegenzuwirken, verwendet Kunze Keramiktafeln aus glasiertem Ton, die er selbst bedruckt. Er nimmt eine Tafel heraus, darauf zu sehen ist der „Svalbard Global Seed Vault“, ein Saatgutspeicher auf der norwegischen Insel Spitzbergen, der Saatkörner für einen Katastrophenfall aufbewahrt. Kunze klopft auf die Tafel, es erklingt ein hoher Ton. „Diese Tontafeln sind temperatur-, säure-, druck- und korrosionsbeständig, theoretisch halten sie über eine Million Jahre.“
Auch das Bundesamt archiviert in einem Stollen
Das MOM ist nicht das einzige Archiv dieser Art: Im Barbarastollen im Schwarzwald lagert das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe seit Jahren Filmrollen voller Fotos wichtiger kultureller Güter ein. Über 500 Jahre sollen die Dokumente so sicher erhalten bleiben. Auch Kunze hat den Standort seines Archivs sorgfältig gewählt: Die Salzwände des Bergwerks wachsen jedes Jahr um ein paar Zentimeter zusammen, werden sie nicht immer wieder abgetragen, schließt sich der Berg von selbst um das Archiv. Aktuell steht das Archiv noch nicht an seinem geplanten Standort tiefer im Berg. Solange das der Fall ist, bezahlt Kunze nur die Mitarbeiter:innen des Bergwerks, die den Zug betreuen, so hat er es in einem Vertrag mit den Betreiber:innen des Salzbergwerks vereinbart. Irgendwann, wenn das MOM fertig ist, soll es tiefer in den Berg gebracht und sich selbst überlassen werden. „Um es vor der größten Gefahr, nämlich den Menschen selbst, zu schützen“, sagt Kunze.
Die Kurzlebigkeit unserer Archive ist nicht Kunzes einzige Sorge: „Wir kennen etwa 0,1 Prozent der Texte aus der Antike, aber damals war das Publizieren aufwendig und hatte eine gewisse Relevanz, wir können also davon ausgehen, dass wichtiges Wissen transportiert wurde.“ Heute sei das anders, jeder könne Informationen veröffentlichen. Sollten in 2000 Jahren noch 0,1 Prozent unserer Informationen erhalten sein, wären es womöglich Verschwörungstheorien oder pornografische Inhalte, keine wissenschaftlichen Studien – einfach aufgrund der großen Verbreitung.
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Das MOM soll wichtige Informationen aus unserer Zeit aufbewahren. Neben Zeitungsartikeln sind das auch kulturelle Schätze, wie der Roman „Ulysses“ des irischen Schriftstellers James Joyce oder historische Dokumente wie die österreichische Verfassung. Kunze hat sie zu ihrem 100-jährigen Bestehen im Jahr 2020 in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Kanzleramt im MOM eingelagert. Auch einige Institutionen, wie das Naturhistorische Museum Wien oder die Universität Wien, haben schon Tafeln einlagern lassen.
Und dann gibt es da noch die zwei Tafeln über Atommüllendlagerung. Sie sind Kunze besonders wichtig. Man muss sie nebeneinanderlegen, damit sie Sinn ergeben. Er greift sich beide und präsentiert stolz sein Design. Um sicherzustellen, dass zukünftige Generationen oder Spezies die Tafeln verstehen, verzichtet er bei ihnen auf Sprache oder typische Warnzeichen, wie das bekannte Strahlungssymbol. Stattdessen groß und über beide Platten hinweg abgebildet: das Periodensystem. Die Ordnungszahlen der verschiedenen chemischen Elemente, also ihre Reihenfolge im Periodensystem, seien keine Interpretationsfrage, sondern ein naturgegebener Fakt. Nicht umsonst wurde es unabhängig voneinander von zwei Forschern entdeckt. „Das wird im ganzen Universum gleich ausschauen. Das ist nicht irgendwas, was wir uns ausgedacht haben“, erklärt Kunze. Finder der Tafel, die das Periodensystem kennen, würden anhand der markierten Elemente verstehen, um was für eine Art von Müll es sich hierbei handelt.
Der neue Haarschnitt wird archiviert
Es gibt im MOM aber auch ganz andere Tafeln, so wie die mit dem Titel „Ryan’s New Haircut“, in der Kopfzeile der Tafel steht „privat“. Sie besteht aus drei Bildern, einem jungen Mann werden die Haare geschnitten. „Das ist von einem Amerikaner, Ryan ist sein Bruder. Das ist schon seine zweite Tafel hier, der findet das total lustig“, sagt Kunze und lacht. Ryans Bruder hat für die Tafel 350 Euro gezahlt. Für das Geld hat Kunze sein Motiv auf eine Keramiktafel gebrannt und sie hier im Archiv eingelagert. Jeder kann bei MOM private Motive einsenden, Hochzeitsfotos sind beispielsweise auch eine beliebte Erinnerung zum Einlagern.
Spätestens hier stellt sich die Frage, wie demokratisch das Projekt von Martin Kunze ist. Denn digitale Archive haben einen Vorteil: Jeder und jede kann speichern. Digitale Fotos sind günstig, Projekte wie die Wikipedia sind nicht kommerziell. Wer in Martin Kunzes Archiv verewigt werden will, muss zahlen. Wer sich das leisten kann, an den wird erinnert.
Kunze hält dagegen: Das Einlagern in sein Archiv kostet je nach Herkunft unterschiedlich viel, ein Mensch aus Angola zahlt weniger als aus den USA. Zweitens ist ihm wichtig, dass in seinem Archiv nicht nur „offizielle“ Informationen aufbewahrt werden, sondern auch „persönliche“. Wenn nämlich viele Fotos von Hochzeiten eingelagert würden, vermittle das zukünftigen Historiker:innen auch eine Botschaft: „Dann war uns das wohl sehr wichtig“, sagt Kunze.
Aber der wichtigste Grund für die privaten Tafeln: Wer eine einlagern lässt, bekommt dafür einen sogenannten Token. Die verbreiten sich so in der ganzen Welt und weisen, wie eine Spur Brotkrümel, den Weg zum Archiv. „Das ist eine Schatzkarte“, sagt Kunze und hält dabei eine hellbraune, etwa drei Zentimeter dicke Scheibe zwischen seinem Daumen und Zeigefinger, sie erinnert an einen tönernen Eishockey-Puck. Auf der einen Seite der Scheibe befindet sich eine Karte Europas, ein Fadenkreuz zeigt auf einige Kilometer genau auf die Gemeinde Hallstatt. Die andere Seite zeigt den Hallstätter See, ein Pfeil ist auf den genauen Ort des Salzbergwerks gerichtet.
Wer also in der Zukunft einen solchen Token findet, wäre in der Lage, die verbuddelten Tontafeln von Kunzes Archiv zu finden.
Doch das MOM und seine Keramiktafeln sind nicht Kunzes Hauptprojekt, im Moment pausiere es. Kunze hat die Firma „Ceramic Data Solutions“ gegründet, die seit einigen Jahren an der Entwicklung eines neuen Datenträgers arbeitet. Er hält eine zehn mal zehn Zentimeter große Folie hoch. Das Material heißt Keramikglas und wird häufig auch als Displayschutz bei Handys verwendet. Kunze kann darauf 120 Gigabyte Daten speichern, das sind etwa zehn Kinofilme in HD-Qualität. Dafür verwendet er einen Femtosekundenlaser, den, wie er sagt, „modernsten, tollsten, stärksten“ Laser, den es auf dem Markt gibt. Der brennt die Informationen auf das Keramikglas.
Die deutsche Bundesregierung ist aktuell vor allem damit beschäftigt, analoge Archivbestände zu digitalisieren. Gleichzeitig sieht sie sich nach alternativen Datenträgern um. In einem Strategiepapier zur effektiveren Datenspeicherung aus dem Jahr 2021 ist von „Glasplatten als Speichermedium“ die Rede, die die Archivierung großer Datenmengen erleichtern sollen.
Für „Ceramic Data Solutions“ hat Kunze viele Investor:innen an Land gezogen, Ziel ist es, bis 2030 die Datenträger aus Keramikglas in Archiven auf der ganzen Welt einzusetzen. Die Datenträger wären nicht nur langlebiger als die digitale Konkurrenz, sie würden auch viel Strom einsparen. Aktuell liegt ein Großteil der Daten in den Archiven griffbereit herum und verbraucht laufend Strom, ohne jemals ausgelesen zu werden. Das Geld, das Kunze mit „Ceramic Data Solutions“ verdient, soll auch ins MOM fließen. Kunze möchte die Folien auch im MOM einlagern, um der Idee von seinem „Gedächtnis der Menschheit“ näherzukommen. Große Pläne, wenn man bedenkt, dass bisher erst knapp über 900 Tafeln in dem Menschheitsarchiv lagern.
Mittlerweile ist die Kälte durch die Klamotten gedrungen. Kunze sortiert die Tafeln wieder in ihre Kisten. Er verabschiedet sich von den Mitarbeiter:innen des Bergwerks und setzt sich auf die Bahn. Mit ohrenbetäubendem Dröhnen setzt sie sich in Bewegung. Heute wurde kein neues Wissen hinzugefügt. Aber Kunze will bald wiederkommen und eine neue Ladung Tafeln abliefern.
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