Verfassungsrichter über Durchsuchungen: "Viele sind verfassungswidrig"
Der Verfassungsrichter Mellinghoff wechselt zum Bundesfinanzhof. Ein Gespräch über die Grenzen des Privaten, Durchsuchungen wegen Falschparkens und überlastete Richter.
taz: Herr Mellinghoff, am Bundesverfassungsgericht waren Sie elf Jahre lang für die Prüfung von Hausdurchsuchungen zuständig. Sind Sie eigentlich mal selbst durchsucht worden?
Zum Glück nicht. Aber wenn ich am Schreibtisch saß und solche Fälle bearbeitet habe, versuchte ich durchaus, mir das vorzustellen, um ein Gefühl für die Situation zu bekommen.
Welche Bilder hatten Sie dabei im Kopf?
56, ist seit Januar 2001 Richter am Bundesverfassungsgericht. Im Zweiten Senat war er unter anderem für Fragen der Strafprozessordnung, insbesondere Hausdurchsuchungen, federführend. Zum 1. November wird er Präsident des Bundesfinanzhofs in München. Er ist Mitglied der CDU und von Haus aus Steuerrechtler.
Dass plötzlich fremde Menschen in meine Wohnung kommen, alle Schränke und Schubladen öffnen, sehen, wie ich lebe, welche Interessen ich habe oder wie es zum Beispiel in meinem Schlafzimmer aussieht. Und dass auch alle Nachbarn den Polizeieinsatz mitbekommen und sich fragen, was ich wohl verbrochen habe. Nur wenn man sich das plastisch vorstellt, kann man ermessen, welch schwerer Grundrechtseingriff so eine Durchsuchung ist.
Welche Bedeutung hat die Wohnung im Grundgesetz?
Sie ist geschützt als Ort der Privatheit und des Rückzugs. Die grundsätzliche Unverletzlichkeit der Wohnung ist für den Schutz der Privatsphäre von zentraler Bedeutung.
Wie sieht es mit dem Schutz der Wohnung in der Praxis aus?
Die Verfassung: "Die Wohnung ist unverletzlich", heißt es im Artikel 13 des Grundgesetzes. Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter angeordnet werden, bei "Gefahr im Verzug" auch durch die Staatsanwaltschaft und die Polizei.
Die Praxis: Die Hürden sind niedrig, es genügt der Anfangsverdacht einer Straftat. Die Zahl der Durchsuchungen wird statistisch nicht erfasst. Experten schätzen, dass es mehr als hundertausend pro Jahr sind.
Leider nicht so gut. In den Jahren 2005 bis 2008 betrafen immerhin 20 Prozent aller erfolgreichen Verfassungsbeschwerden eine Wohnungsdurchsuchung. Das waren zwanzig bis dreißig Beanstandungen pro Jahr. Seitdem ist der Anteil etwas zurückgegangen, vielleicht auch als Reaktion auf unsere Rechtsprechung. Aber die Zahl verfassungswidriger Durchsuchungen ist immer noch bedenklich hoch.
In der Öffentlichkeit ist das kaum ein Thema.
Das wundert mich auch. Ich halte das nicht für angemessen.
Was sind die häufigsten verfassungsrechtlichen Probleme bei Durchsuchungen?
Viele Durchsuchungen verstoßen gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Dabei stehen Anlass und Ermittlungsziel in keinem vertretbaren Verhältnis mehr zur Schwere des Grundrechtseingriffs.
Gibt es typische Konstellationen?
Da wird nach Beweismitteln gesucht, die der Polizei schon vorliegen. Oder es wird angeblich nach Entlastungsbeweisen gesucht - dabei kann der Beschuldigte diese ja selbst ins Verfahren einbringen. Da wird durchsucht, obwohl eine Information auch auf andere Weise beschafft werden könnte, etwa über staatliche Register. Da wird ohne handfesten Verdacht und nur aufgrund vager Anhaltspunkte und Vermutungen einfach mal die Wohnung durchsucht.
Eine Wohnungsdurchsuchung dient aber nicht dazu, einen Tatverdacht erst zu begründen. Sonst könnte man jede Wohnung durchsuchen und ohne weitere Rechtfertigung die Privatsphäre der Bürger ausforschen.
Hat die Polizei zu viel Zeit?
Wenn man liest, dass eine Wohnung wegen Falschparker-Bußgeldern in Höhe von 15 Euro durchsucht wird, kann man kaum glauben, dass Polizei und Justiz so furchtbar überlastet sind. Manchmal hat man den Eindruck, da geht es noch um etwas anderes als um Strafverfolgung.
Worum?
Zum Beispiel um Einschüchterung und Disziplinierung. Dazu sind Hausdurchsuchungen im Rechtsstaat aber ganz sicher nicht da.
Zählen Teile der Wohnung zum völlig unantastbaren "Kernbereich privater Lebensgestaltung"?
Nein. Es gibt keinen Raum der Wohnung, der generell nicht durchsucht werden dürfte.
Auch nicht die Schublade, in der ich Dinge aufbewahre, die ich niemand zeigen will, etwa meine Pornosammlung und meine grüne Latex-Unterwäsche?
Das Vorhandensein solcher Gegenstände kennzeichnet noch nicht den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Das Bundesverfassungsgericht zählt zu diesem Kernbereich vor allem die Äußerung höchstpersönlicher Gedanken, etwa im Gespräch mit dem Partner oder in einem Tagebuch.
Die Polizei hat aber auch schon Tagebücher beschlagnahmt und das Bundesverfassungsgericht hat dies gebilligt.
Das war eine ganz knappe und umstrittene Entscheidung vor meiner Zeit.
Wie würden Sie heute entscheiden?
Ich würde zumindest die gerichtliche Verwertung privater Äußerungen in einem Tagebuch für unzulässig halten.
Auch wenn darin über begangene Straftaten reflektiert wird?
Nach gegenwärtiger Rechtsprechung wäre die Verwertung zulässig. Ich halte dies aber für problematisch, denn es muss doch einen vom Staat nicht ausforschbaren Bereich innerer Reflexion geben.
Sind private Computer vor einer Beschlagnahme besonders geschützt?
Nein.
Das Bundesverfassungsgericht hat aber 2008 die "Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme" zum Grundrecht erklärt. Darin dürfe nur zum Schutz überragend wichtiger Rechtsgüter eingegriffen werden.
In diesem Urteil ging es um das heimliche Eindringen in den Computer bei einer sogenannten Onlinedurchsuchung. Die Wohnungsdurchsuchung und Beschlagnahme ist aber offen.
Wenn ich etwas in meinen Computer schreibe, bin ich doch auch arglos und weiß nicht, dass er morgen von der Polizei mitgenommen wird.
Es gibt dennoch zwei wichtige Unterschiede zur Onlinedurchsuchung. Für den Fall einer Beschlagnahmung können Sie den Inhalt Ihres Computers oder einzelne Daten vorab mit Passwörtern oder Verschlüsselung schützen. Und Sie können nach einer Beschlagnahme Rechtsmittel einlegen und so versuchen, die Auswertung zu verhindern. Beides ist bei einer heimlichen Ausspähung nicht möglich.
Grundsätzlich muss jede Wohnungsdurchsuchung vorab von einem Richter genehmigt werden. Funktioniert dieser Richtervorbehalt?
Angesichts der unzähligen Durchsuchungen, die jedes Jahr von der Polizei durchgeführt werden, gibt es ja relativ wenig Beanstandungen des Bundesverfassungsgerichts. Hinzurechnen müsste man allerdings Fälle, bei denen bereits die Fachgerichte eine Durchsuchung für rechtswidrig erklärt haben.
Sind das alles Einzelfälle oder gibt es einen verbreiteten Mangel an Sensibilität?
Was mich beunruhigt, sind Fallkonstellationen, die ganz eindeutig rechts- und verfassungswidrig sind und trotzdem von Richtern durchgewinkt werden. Das ist ein Indiz dafür, dass die Maßstäbe nicht nur im Einzelfall etwas verrutscht sind. Da ist es gut, wenn das Bundesverfassungsgericht gelegentlich den Finger in die Wunde legt. Die Durchsuchung darf keine Standardmaßnahme werden.
Sind Richter zu überlastet, um gründlich zu prüfen?
Viele Ermittlungsrichter sind sicher überlastet. Aber da muss man sinnvolle Prioritäten setzen. Es gibt einfache Entscheidungen, für die man nur wenige Minuten braucht, und für andere muss man den Sachverhalt sehr lange prüfen.
Oft bekommen Richter eine vorformulierte Verfügung der Staatsanwaltschaft, die sie nur noch unterschreiben müssen.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Wenn der Richter wenig Zeit für die Formulierung der Durchsuchungsanordnung braucht, hat er mehr Zeit zur inhaltlichen Prüfung. Ob die Voraussetzung einer Durchsuchung in ausreichendem Maße geprüft wird, hängt nicht von der Schreibleistung ab.
Ermittlungsrichter sind auf die Informationen von Polizei und Staatsanwaltschaft angewiesen. Werden Richter dabei oft manipuliert?
Mir ist kein Fall einer bewussten Manipulation begegnet.
Wenn eine Durchsuchung rechtswidrig war, dürfen die Ergebnisse dann trotzdem vor Gericht verwertet werden?
Grundsätzlich ja. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon mehrfach entschieden. Auch eine effektive Strafverfolgung ist ein wichtiger Verfassungswert.
In den USA dürfen Ergebnisse rechtswidriger Durchsuchungen nicht verwendet werden.
Bei uns gilt diese Fruit-of-the-poisonous-Tree-Doktrin nicht. In Deutschland sind die rechtsstaatlichen Anforderungen an Durchsuchungen deutlich höher als in vielen anderen Staaten. Eine Durchsuchung ist daher schnell rechtswidrig. Das darf aber nicht automatisch dazu führen, dass die erlangten Beweise ignoriert werden müssen. Hier ist im Einzelfall abzuwägen.
Ist das nicht eine Belohnung für staatlichen Rechtsbruch?
Nein. Wenn der Kernbereich privater Lebensgestaltung verletzt ist oder die Grundrechte der Bürger bei der Durchsuchung planmäßig und bewusst verletzt werden, gilt auch in Deutschland ein Verwertungsverbot.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag