piwik no script img

Verfassungsgericht verurteilt Wahlrecht„Sieg über schwarz-gelbe Arroganz“

Während die Koalition sich bestätigt sieht, jubelt die Opposition über die Blamage von Schwarz-Gelb. Doch alle wissen, dass es einen Konsens zum Wahlrecht geben muss.

Wer zählt mehr? Nach dem Urteil des Gerichts steht Deutschland ohne verfassungsgemäßes Wahlrecht da. Bild: dpa

BERLIN taz | Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht hat das politische Berlin mitten in der Sommerpause erschüttert – und jede Partei liest es anders. Während die Koalition am Mittwoch betonte, der Karlsruher Richterspruch bestätige „im Kern“ das von ihr beschlossene Wahlrecht, interpretierte die Opposition ihn als Blamage für Schwarz-Gelb. „Die Koalition hat heute die Quittung dafür bekommen, dass sie das Wahlrecht als Machtrecht missbraucht hat“, sagte SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann.

Die Union sieht sich von den Richtern vor allem bei den Überhangmandaten bestätigt. „Das Ziel der Opposition, ausgleichslose Überhangmandate vollständig abzuschaffen, wurde nicht erreicht“, sagte Unionsfraktionsvize Günter Krings. „Gute und überzeugende Arbeit in den Wahlkreisen lohnt sich auch weiterhin.“

Eine Partei bekommt dann Überhangmandate, wenn sie in einem Bundesland mehr Direktmandate durch Erststimmen erringt, als ihr dort nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würden. Vor allem große Parteien mit direkt gewählten Abgeordneten profitieren.

Die Union hatte sich im Streit um das Wahlrecht immer für eine Beibehaltung dieser Regelung stark gemacht. Das Gericht erklärte Überhangmandate grundsätzlich für verfassungsgemäß, legte jedoch eine Höchstgrenze von 15 Mandaten fest. Das von Union und FDP im September beschlossene Wahlgesetz lasse dagegen so viele Überhangmandate zu, dass dies den Charakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufhebe, kritisierten die Verfassungsrichter.

SPD: Jede Stimme soll gleich viel wert sein

Die SPD will Überhangmandate vollständig ausgleichen. Profitieren Fraktionen von Überhangmandaten, würden die anderen gemäß ihres Zweitstimmenanteils zusätzliche Mandate zugesprochen bekommen. „Alle Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Stimme genausoviel wert ist wie die der anderen“, sagte Oppermann.

Die Grünen werteten das Urteil als „Sieg der Demokratie über die schwarz-gelbe Arroganz“. Fraktionsgeschäftsführer Volker Beck sagte mit Blick auf die Überhangmandate: „Die Koalition ist mit ihrem Versuch gescheitert, sich über das Wahlrecht eine Mehrheit zu ergaunern.“

Die Grünen schlagen eine andere Lösung vor: Sie wollen, dass die Anrechnung der Direktmandate auf das Zweitstimmenergebnis bereits auf Bundesebene erfolgt – und nicht mehr wie bisher in den Ländern. So könnten Überhangmandate nicht mehr entstehen.

Seit dem Urteil hat Deutschland kein verfassungsgemäßes Wahlrecht mehr. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) mahnte einen schnellen Konsens an – und kritisierte dabei deutlich die Regierungskoalition. Es empfehle sich dringend, sagte Lammert, zwischen den Fraktionen eine möglichst einvernehmliche Lösung zu finden, „um auch nur den Anschein einer Begünstigung oder Benachteiligung einzelner Parteien oder Kandidaten zu vermeiden.“

Den Willen zur Einigung ließen die Angesprochenen bereits erkennen: Krings (CDU), Oppermann (SPD) und Beck (Grüne) vereinbarten noch im Gerichtssaal, Ende August mit den Verhandlungen über ein neues Wahlrecht zu beginnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • OP
    Otto Pardey

    Von der schwarz-gelben Arroganz zur rot-gruenen

    Haeme//Arroganz und dann?!

  • GE
    Grüner Entwurf ermöglicht Überhangmandate

    Auch nach dem Vorschlag der Grünen können Überhangmandate entstehen.

     

    Konkret würde er nichts an den derzeitigen Überhangmandaten der CSU ändern, da diese nur in einem Land antritt und da nichts bundesweit ausgeglichen werden kann.

     

    Allerdings hatte ich gehört, das Grüne im Zweifel Direktmandate mit wenigen Stimmen nicht zuteilen lassen wollen. Das würde das Problem tatsächlich endgültig beheben.

  • O
    OswinRobert

    Die Lage ist ernster als es Spötter wahrhaben wollen.

    Falls die Komikerin M. zurücktreten müßte (weil die Koalition etwa nach einem ESM -Verdikt des BVG platzt o.äh.) wären dann nötige Wahlen was? Von vornherein nicht verfassungsgemäß. Sicher-das BVG kann bestimmte Dinge anordnen,aber dass hätte den Geruch von Notverordnungen!!

     

    Nein-die erste Pflicht wäre es für ALLE Parteien (auch Rot-Grün hat bewusst schon wichtige Gesetze verabschiedet von denen die Zuständige wußten, dass sie nicht verfassungsgemäß waren und haben noch frech wie 14-Jährige schnodderig-spöttisch auf die Gültigkeit verwiesen die solange bestünde bis das BVG sie kippt! Wie der 19-Jährige Prekariater, der soalnge bei Rot über die Ampel fährt mit dem aufgemotzten Golf,bis die Polizei ihn daran hindert!)

    welche?

    Sofort die "Sommerpause" abbrechen und sich zu 100% samt Regierung und deren Mitarbeitern AN DIE ARBEIT ZU SCHEREN -und zwar rapido!

    Dieses Jahr gibt es eben keinen Urlaub. Aus die Maus!

     

    Ein verfassungsgemäßes Wahlrecht in jener an sich völlig richtigen Mischung aus Mehrheits-und Verhältniswahlrecht muß schleunigst her.

     

    Jeder listig-primitiven "Reform" etwa in Richtung Mehrheitswahlrecht ist dabei eine sehr deutliche Abfuhr zu erteilen, denn dessen Verfechter stehen ja bereits in den Startlöchern!

     

    Zum -vielleicht ebenfalls nicht verfassungsgemäßen-ESM Beschluß und der Entschließung zu Sondergesetzen über Kinderpenisse kam man ja aus dem Urlaub geeilt.

     

    Da ist es nicht zuviel verlangt , wenn beim selbstangerichteten Komplettversagen Wahlrecht

    (nochmal: wir haben derzeit kein reguläres!Nicht Holland-sondern Demokratie in Not!)die gesamte schuldige Rasselbande zur Sonderschicht antritt -und wenn es den ganzen Sommer dauert und denen bei der Hitze das Wasser am A... runterläuft.

     

    Das ist ja wohl das Mindeste,was der Bürger erwarten kann-von dem in anderen Zusammenhängen von genau diesen Chargen noch ganz andere Sachen verlangt werden!

  • D
    deviant

    Eigentlich empfiehlt sich dieses Wochenende für politische Agitation: Kein gültiges Wahlrecht, keine Politiker im Lande, weil alle im Urlaub sind und genau genommen auch keine Verfassung.

     

    Würde jetzt geputscht ... holladiewaldfee ... wahrscheinlich würden sich Mutti und ihre Rabauken zusammensetzen und beschließen, dass sie noch im September entschlossen reagieren werden, wenn man sich beeile, könnte man vielleicht sogar bis 2014 wieder genug Soldaten im Lande haben, um dem Putsch auch militärisch gegenüberzutreten.

    Aber nur, wenn die Märkte mitspielen.