Vererbte Last der Migration: Was an uns kleben bleibt
Wie viel Verantwortung tragen wir für das Glück unserer Eltern? Kinder von Migrant:innen spüren oft besonders viel Druck, Erwartungen zu erfüllen – selbst im Urlaub.
L etzte Woche war ich ein paar Tage in Brandenburg, wie es sich für pandemiereisesensible Berliner:innen gehört. Mit einer alten Freundin habe ich eine modernisierte Gartenlaube zwischen fünf Seen gemietet.
Morgens waren wir baden, tagsüber sind wir in Klatschmohnlandschaften hineingewandert, später haben wir von limonengrünen Liegestühlen aus der Sonne beim Verschwinden zugesehen und abends gossen wir uns gegenseitig Rosé nach, rauchten Marlboro Gold und wickelten unsere Beine in Tagesdecken von Ikea, um sie vor den Mücken zu schützen.
Wir haben gelesen (sie „Miteinander Reden: 1“ von Friedemann Schulz von Thun, ich „Erinnerungen eines Mädchens“ von Annie Erneaux), und uns Ameisen und Cantuccinikrümel von den Bäuchen geschnipst. Außerdem haben wir über Dinge geredet, die wir lange wissen, aber noch nie ausgesprochen haben. Über Hoffnung, die an uns klebt und die sich nicht wegschnipsen lässt.
Es gibt Dinge, die tut man, damit andere glücklich sind. In die Kirche gehen, weil Opa sich das so wünscht, obwohl das kollektive „Vater Unser“ ein flaues Gefühl im Magen macht. Der eine Familienurlaub im Jahr, nach dem man direkt nochmal Urlaub bräuchte. Aber gut, den Liebsten zuliebe, sind ja auch nur ein paar Tage. Aber was, wenn es ein ganzes Leben ist?
Vor der Gartenlaube reden wir über die Last, die wir nicht loswerden. Das Gefühl, für die Erfüllung des elterlichen Glücks zuständig zu sein. Wir stellen fest, dass die Last eine universelle ist. Wir sagen Sätze wie „Klar fühlen alle diese Verpflichtung gegenüber den Menschen, von denen sie in die Welt gesetzt worden sind“ und „Es kann doch niemand sein ohne das, was die Eltern waren“.
Stabile Berufe wählen
Wir schmieren unsere Mückenstiche mit Tigerbalsam ein und stellen fest, dass die Last auch eine spezifische ist. Dass wir uns überdurchschnittlich verantwortlich dafür fühlen, dass die Lebensgeschichte unserer Eltern gelingt. Ich sage: „Weiß nicht, ob Ma ein besseres Leben in Deutschland wollte. Vielleicht wollte sie einfach ein anderes“, und meine Freundin sagt: „Es ist kein Zufall, dass meine Geschwister und ich stabile Berufe gewählt haben.“
Was macht das mit dir, wenn deine Eltern für sich und für dich die Zelte abgebrochen haben? Wenn sie an einen Ort gingen, um dort ewige Anfänger:innen zu sein, obwohl sie das Leben schon einmal durchgespielt hatten?
Vielleicht macht es dich zu einer Hülle für alles, was sie hoffen. Du trägst nicht die Hoffnung, sie füllt dich aus, das ist schön und schwer. Wo wird Verantwortung zu Schuld, wie viel Abhängigkeit ist Zuhause und wie viel Gefängnis?
Ma wünscht sich zum Geburtstag nie mehr als meine Anwesenheit. Ich frage trotzdem immer, dieses Jahr schreibt sie: „Zum 66. Geburtstag muss eine Tochter ihrer Mutter 66 Stück Fleisch zubereiten.“ Ehrlich gesagt würde ich lieber 66 Johannisbeeren pflücken, oder mich 66-mal vor Ma verbeugen. Aber wahrscheinlich werde ich Fleisch schneiden, der Liebsten zuliebe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Russland droht mit „schärfsten Reaktionen“
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Israelis wandern nach Italien aus
Das Tal, wo Frieden wohnt