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Venezuelas Regierung wird abgestraftHoffnung auf ein besseres Leben

Das Viertel 23 de Enero in Caracas ist eine Hochburg der Anhänger des verstorbenen Chávez. Selbst dort stimmen viele erstmals für die Opposition.

Mausoleum für Hugo Chávez in der Kaserne Cuartel de la Montaña in Caracas, von der aus er 1992 erfolglos putschte. Foto: Jürgen Vogt

Caracas taz | Von der Metro-Station El Silencio ruckelt der Bus hoch in das Viertel 23 de Enero. Oben am Hang liegt die Kaserne Cuartel de la Montaña. 4F steht hier in großen Lettern. Am 4. Februar 1992 startete der junge Fallschirmspringer Hugo Chávez von hier aus einen Putschversuch. Der Aufstand scheiterte, Chávez übernahm die Alleinverantwortung, wurde über Nacht bekannt und mit ihm Kaserne und Stadtviertel. Seit seinem Tod 2013 liegen seine Gebeine im Mausoleum in der Kaserne.

Wer die Haltestelle an der Kaserne verpasst, fährt eine Schleife durch enge Straßen über die Hügel im Nordwesten der Hauptstadt Caracas. Bunte Häuser und Hütten ziehen sich die Hänge hoch, alle fünf Ecken ein Porträt des Comandante, mal riesig, in die Zukunft schauend, mal klein mit dem Blick in die Augen des Betrachters. „Chávez vive – Chávez lebt.“ Chávez Nachfolger Nicolás Maduro glänzt durch Abwesenheit.

Die Warteschlange vor der Kaserne ist mehrere Hundert Meter lang. Geduldig warten die Menschen auf Einlass. In der Kaserne ist ein staatlicher Supermarkt. Öffnet sich das Kasernentor, werden Wartende in kleinen Gruppen eingelassen.

Maria Flores steht schon eine Stunde an. Heute gebe es Reis, Kaffee, Maismehl und Eier zu kaufen. „Gestern gab es ein Huhn pro Person“, erzählt sie. Ihr Mann habe angestanden und Glück gehabt. „Schlecht, schlecht“, sei die Situation. Sie schaut sich um, wer mithören könnte. Seit 32 Jahren wohne sie in 23 de Enero. Es sei immer schwierig gewesen, aber jetzt? Seit Tagen käme kein Wasser aus der Leitung.

Würde er noch leben, sähe es ganz anders aus

Anhänger von Hugo Chávez

„Dort“, deutet sie auf ein Gebäude, „hängt Wäsche zum Trocken aus den Fenstern.“ Die hätten Wasser. Da habe ein Colectivo das Sagen. In 23 de Enero gebe es gleich mehrere.

Paramilitärische Unterstützers des Comandante

Colectivo ist das Synonym für bewaffnete Gruppen, die auf Motorrädern Angst und Schrecken verbreiten. Hervorgegangen aus Nachbarschaftsgruppen für gegenseitige Hilfe oder um Ordnung zu schaffen, wo keine Ordnungskräfte sind, haben sie sich unter Chávez radikalisiert und zum Teil in paramilitärische Unterstützer des Comandante verwandelt.

Doch bei der Parlamentswahl hätten die Menschen die Angst überwunden. Am Abend des 6. Dezember habe eine unglaubliche Stille über dem Viertel gelegen. Dann stand es fest: erstmals hatte die Opposition in 23 de Enero gewonnen – mit 16 Prozent Vorsprung.

„Die Probleme in 23 de Enero sind die gleichen wie in ganz Venezuela: prekäre Arbeitsplätze, Mangel an allem und extrem hohe Gewaltkriminalität“, sagt Jorge Millan, der siegreiche Oppositionskandidat. 2015 zählte das Observatorio Venezolano de Violencia (OVV) 27.875 gewaltsame Todesfälle. Auf 100.000 EinwohnerInnen kamen 90 Tote. Venezuela hat damit Honduras als gewalttätigstes Land in Lateinamerika und der Karibik abgelöst.

Armut und Elend

Seinen Erfolg zeige die Erosion des regierenden Chavismus. „Eine Sache ist die Chávez-Verehrung, eine andere ist das Verlangen nach einem normalen Leben“, so Millan. Ja, die Menschen hätte die Regierung abgestraft, „aber es ist auch die Hoffnung, besser zu leben, ohne Schlange stehen, ohne Angst.“ Viele hätten mit dem Modell gebrochen, weil sie einsehen mussten, das es nur Lösungen für die Polit-Familien und deren Amigos bietet und für sie nur Armut und Elend.

Die Besuchergruppe beim Mausoleum ist klein, Wartezeit keine. Geführt geht es an Fahnen der Länder vorbei, die der Comandante je besucht hat. Dann tritt man ein in den Innenhof, zum Sarkophag. 12 Uhr Mittag, Ablösung der Ehrenwache, Stechschritt, eine Posaune wird geblasen, Gardisten rufen „Viva Chávez. Viva la Patria“. Nebenan stehen Reliquien des Comandante in den Vitrinen. Der blecherne Kaffeebecher soll seine Bescheidenheit zeigen.

Gegenüber der Bushaltestelle beherbergt ein Holzhütte einen Altar. An den Bretterwänden hängen Bilder des Comandante, Zettel mit Sprüchen und Wünschen. „Würde er noch leben, sähe es ganz anders aus“, sagt ein 40-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Jetzt sitzen die Teufel schon im Parlament.“ Sein Colectivo würden Chávez’ Vermächtnis gegen die Konterrevolution verteidigen. Dreht sich um und geht zu seinem Motorrad.

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3 Kommentare

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  • Viel kann ich nicht sagen, zu Venezuela, als nicht dort und in gesunder Selbsteinschätzung Lebender. Aber es wundert mich überhaupt nicht. Denn wir in Brasilien hatten ja auch so einen „linken Aufbruch“. Mit Lula-Regierung 1. Und sofortigem Bitter-Erwachen, als diese ab Tag 1 an die Realo-Macht-Arbeit ging und wir verstehen mussten, dass die essentiellen Versprechungen, „Landreform“ und „Korruptions-Njet“, über Nacht vergessen und begraben waren (im Gegensatz zu den vielen europäischen Träumer- oder PinocchiojournalistInnen, die im Trauerwahn um das Verschwinden des Sozialismus linke Fatamorganas bzw. Messiasse noch über Jahre bei uns, in Lateinamerika, sahen/zu sehen glaubten). Jedenfalls wars im letzten Lebensjahr Chavez‘ als ich im extremen Norden Brasiliens und anschliessend auch in Guyana zu tun hatte. Was ich, nach getaner Arbeit, zu einem Sprung nach Venezuela nützte. Wollte dort anderthalb Wochen verschnaufen. Nach sechs Tagen nahm ich den Bus zurück nach Brasilien (Boa Vista). Unaushaltbar. Alles was in Brasilien schon schlimm ist, war es im Chavezland zur Potenz. Nichts funktionierte, Versorgung jener in Ceaucescu-Rumänien (auch dort war ich mal) nicht unähnlich. Und überall die Präpotenz der RottüchlerInnen. Wenn denen dein Gesicht nicht passte, bekamst du nicht mal ein Busticket (oder sonstwas). Da war (leider, und genauso wie bei Lula-Dilma-uns) gar nichts substantiell Linkes zu entdecken. Nur radikale Inkompetenz und Arroganz. Linksrum bleibt für VenezuelanerInnen und uns (Chilenen, Paraguayer...) weiter eine Utopie. (Und was Chavez mit den Indigenen so "anstellte" ist idem ident mit dem was "Dilma" so "tut". General Custer und Edgar Hoover applaudieren im Grabe.)

  • Hat der Neoliberalismus auch nur eine einzige seiner Verheißungen und Versprechungen halten können?

  • Und wieder ist eine große Hoffnung der Linken an der Realität zerschellt.

    Die Militärfaschisten unter Chaves haben in einem international bekannten Einwanderungsland mit reichen Bodenschätzen Versprechungen gemacht.

    Wie fast immer konnten sie diese Versprechungen nicht einhalten und mußten die so entstehenden Feinde umbringen oder vertreiben (ca. 1 Million sind unter Chaves vertrieben worden).

    Die linken Versprechungen haben sich nie bewahrheitet aber immer noch ist es etwas wo die Hoffnung über die Erfahrung triumphiert.