Venezuelas Regierung wird abgestraft: Hoffnung auf ein besseres Leben
Das Viertel 23 de Enero in Caracas ist eine Hochburg der Anhänger des verstorbenen Chávez. Selbst dort stimmen viele erstmals für die Opposition.
Wer die Haltestelle an der Kaserne verpasst, fährt eine Schleife durch enge Straßen über die Hügel im Nordwesten der Hauptstadt Caracas. Bunte Häuser und Hütten ziehen sich die Hänge hoch, alle fünf Ecken ein Porträt des Comandante, mal riesig, in die Zukunft schauend, mal klein mit dem Blick in die Augen des Betrachters. „Chávez vive – Chávez lebt.“ Chávez Nachfolger Nicolás Maduro glänzt durch Abwesenheit.
Die Warteschlange vor der Kaserne ist mehrere Hundert Meter lang. Geduldig warten die Menschen auf Einlass. In der Kaserne ist ein staatlicher Supermarkt. Öffnet sich das Kasernentor, werden Wartende in kleinen Gruppen eingelassen.
Maria Flores steht schon eine Stunde an. Heute gebe es Reis, Kaffee, Maismehl und Eier zu kaufen. „Gestern gab es ein Huhn pro Person“, erzählt sie. Ihr Mann habe angestanden und Glück gehabt. „Schlecht, schlecht“, sei die Situation. Sie schaut sich um, wer mithören könnte. Seit 32 Jahren wohne sie in 23 de Enero. Es sei immer schwierig gewesen, aber jetzt? Seit Tagen käme kein Wasser aus der Leitung.
Anhänger von Hugo Chávez
„Dort“, deutet sie auf ein Gebäude, „hängt Wäsche zum Trocken aus den Fenstern.“ Die hätten Wasser. Da habe ein Colectivo das Sagen. In 23 de Enero gebe es gleich mehrere.
Paramilitärische Unterstützers des Comandante
Colectivo ist das Synonym für bewaffnete Gruppen, die auf Motorrädern Angst und Schrecken verbreiten. Hervorgegangen aus Nachbarschaftsgruppen für gegenseitige Hilfe oder um Ordnung zu schaffen, wo keine Ordnungskräfte sind, haben sie sich unter Chávez radikalisiert und zum Teil in paramilitärische Unterstützer des Comandante verwandelt.
Doch bei der Parlamentswahl hätten die Menschen die Angst überwunden. Am Abend des 6. Dezember habe eine unglaubliche Stille über dem Viertel gelegen. Dann stand es fest: erstmals hatte die Opposition in 23 de Enero gewonnen – mit 16 Prozent Vorsprung.
„Die Probleme in 23 de Enero sind die gleichen wie in ganz Venezuela: prekäre Arbeitsplätze, Mangel an allem und extrem hohe Gewaltkriminalität“, sagt Jorge Millan, der siegreiche Oppositionskandidat. 2015 zählte das Observatorio Venezolano de Violencia (OVV) 27.875 gewaltsame Todesfälle. Auf 100.000 EinwohnerInnen kamen 90 Tote. Venezuela hat damit Honduras als gewalttätigstes Land in Lateinamerika und der Karibik abgelöst.
Armut und Elend
Seinen Erfolg zeige die Erosion des regierenden Chavismus. „Eine Sache ist die Chávez-Verehrung, eine andere ist das Verlangen nach einem normalen Leben“, so Millan. Ja, die Menschen hätte die Regierung abgestraft, „aber es ist auch die Hoffnung, besser zu leben, ohne Schlange stehen, ohne Angst.“ Viele hätten mit dem Modell gebrochen, weil sie einsehen mussten, das es nur Lösungen für die Polit-Familien und deren Amigos bietet und für sie nur Armut und Elend.
Die Besuchergruppe beim Mausoleum ist klein, Wartezeit keine. Geführt geht es an Fahnen der Länder vorbei, die der Comandante je besucht hat. Dann tritt man ein in den Innenhof, zum Sarkophag. 12 Uhr Mittag, Ablösung der Ehrenwache, Stechschritt, eine Posaune wird geblasen, Gardisten rufen „Viva Chávez. Viva la Patria“. Nebenan stehen Reliquien des Comandante in den Vitrinen. Der blecherne Kaffeebecher soll seine Bescheidenheit zeigen.
Gegenüber der Bushaltestelle beherbergt ein Holzhütte einen Altar. An den Bretterwänden hängen Bilder des Comandante, Zettel mit Sprüchen und Wünschen. „Würde er noch leben, sähe es ganz anders aus“, sagt ein 40-Jähriger, der seinen Namen nicht nennen möchte. „Jetzt sitzen die Teufel schon im Parlament.“ Sein Colectivo würden Chávez’ Vermächtnis gegen die Konterrevolution verteidigen. Dreht sich um und geht zu seinem Motorrad.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste