piwik no script img

Varoufakis’ neue BewegungVeteranen um Mitternacht

Kommentar von Mathias Greffrath

Setzt Varoufakis eine neue soziale Bewegung in Gang? Auch in der Stammkneipe lässt sich gut über einen gerechteren Staat debattieren.

Vom Finanzminister zum APO-Fan: Gianis Varoufakis. Foto: dpa

#x201E;Ach, wieder mal eine APO.“ Mein Freund grinste grimmig, als wir aus der Berliner Volksbühne kamen, in der Gianis Varoufakis zu einer neuen sozialen Bewegung gegen die entkernte europäische Demokratie aufgerufen hatte. „Nein“, sagte er. „Das ist nicht der Weg. Teach-ins fühlen sich gut an, aber ihr Geist ist flüchtig. Vielleicht sollten wir jetzt endlich an eine freundliche Übernahme denken.“

Wie bitte? „Na ja“, entgegnete er, „ich wäre dafür, einen Firmenmantel zu erwerben.“ Ich sah ihn fragend an. „Eine Mantelgesellschaft“, klärte er mich auf, „ist eine Firma, die auf dem Papier noch besteht, aber ihre operative Geschäftstätigkeit eingestellt hat, deren Kapital auf die rote Linie hinschrumpft“.

An welche Firma er denke, fragte ich ihn. Mein Freund holte weit aus, erinnerte mich an Johannes Agnolis Theorie über die „Transformation der Demokratie“, derzufolge die Parlamente zu „Transmissionsriemen“ degeneriert seien, die nicht den Bürgerwillen, sondern die Entscheidungen oligarchischer Machtgruppen exekutieren.

„Das ist inzwischen Allgemeingut, deshalb gehen die Leute doch nicht mehr wählen“, unterbrach ich ihn, als wir die Bar gegenüber der Volksbühne betraten, „und im Übrigen: Willst du gerade deine Vergangenheit in die Tonne treten?“

Nein, das wolle er nicht, die APO sei nötig gewesen, so wie ein paar Jahre später die Hausbesetzerszene, aber in der Folge seien eben auch 500.000 Unzufriedene in die SPD eingetreten, hätten deren Kurs verändert. Die überfälligen Modernisierungen seien, ja gut: verwässert, aber Gemeingut geworden durch Gesetze, also ein anderes Parlament. „Und auch heute“, so beendete er seine Geschichtsstunde, „führt kein Weg an der SPD vorbei. Allerdings nicht an dieser.“

Das Ende des Kapitalismus

Warum die SPD, fragte ich meinen Freund. „Nun, erinnerst du dich noch, dass der optimistische Lord Dahrendorf in den 80ern die frohe Botschaft verkündete, die sozialdemokratischen Werte hätten die Gesellschaft erobert, deshalb sei die SPD am Ziel? Heute erleben wir nicht das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters, sondern das Ende des Kapitalismus, so wie wir ihn kennen. Und deshalb brauchen wir eine politische Partei, die aktuelle Notlagen – und das sind ja nicht wenige – so bearbeitet, dass nicht nur akute Katastrophen verhindert werden, sondern dabei zugleich Strukturen entstehen, die den Grundriss für eine postkapitalistische Gesellschaft legen.“

Wir müssten, er erhob dabei seine Stimme, aus der Konkursmasse der SPD die großartige Idee vom „Zukunftsstaat“ bergen und neu definieren. „Sonst bleibt alles, was an Neuem in der Zivilgesellschaft geschieht – und das ist ja nicht wenig – gefährdet, ergreift nicht diejenigen, die diese Umbruchszeit nur passiv erleben.“

„Kein Weg führt an der SPD vorbei. Allerdings nicht an dieser“

Mein Freund redete sich zunehmend in Fahrt und entwarf die Skizze eines solchen Zukunftsstaates: Eine Gesellschaft, in der die Informationstechnik die gute Arbeit noch knapper mache, müsse die Normalarbeitszeit verkürzen oder den staatlichen Sektor ausbauen – auch wenn das mit Einkommensverzicht der Mittelschichten einhergehe. Eine Gesellschaft, deren Ernährungsgewohnheiten für wenige profitabel und für viele, ja für ganze Kontinente schädlich sei, müsse ihr Gesundheitssystem und ihre Ernährungsindustrie von Grund auf umbauen: Das fange schon an mit Küchen in den Schulen und ende bei den Pachtpreisen für landwirtschaftliche Flächen.

Zurück zur alten Geschäftsidee

Er sprach über Währungs- und Rentensysteme, über Pflegenotstand, Vermögensteuer, Wohnungsbau und natürlich und lange über Europa. „Wir brauchen eine neue Idee vom Staat, sonst zerfällt diese Gesellschaft“, endete er, „und vor allem: Bürger, die endlich die repräsentative Demokratie in diesem Land einführen.“

Und das soll die SPD machen, fragte ich ihn, erschlagen von seiner visionären Brandrede. „Na ja“, lächelte er, „das geht natürlich nur, wenn man den Mantel übernimmt und die Firma, von der nur noch das Firmenschild existierte, wieder auf ihre alte Geschäftsidee zurückführt.“ Er jedenfalls glaube, dass sich immer noch viele Menschen mit warmen Gedanken an das alte Produkt – „nennen wir es soziale Gerechtigkeit, Solidarität oder demokratischen Sozialismus“ – erinnern, auch, dass viele Nachgeborene sich so etwas wünschen würden.

Kettenbriefaktion

Und, wie stellst du dir diese Übernahme vor, fragte ich ihn, halb ent- und halb begeistert. Wieder lachte er: „Na ja, ich habe mal auf die Bilanzen geschaut. Die Mitgliederzahl ist um die Hälfte geschrumpft, die Hälfte davon sind Karteileichen; die unter Dreißigjährigen stellen nur gut 5 Prozent. Das ideelle Kapital der Partei von Bebel und Brandt ist abgeschmolzen, sie nähert sich der 15-Prozent-Marge. Getragen wird die SPD von 20 Prozent der „ämterorientierten Aktiven“. Das sind 80.000, die bestimmen also den Kurs der Partei. Und das soll eine Mitwirkung an der Formulierung des Volkswillens sein, wie es im Grundgesetz steht?“

„Und also, wie nun?“, wurde ich ungeduldig. Da begann er zu strahlen. „Weißt du, ich denke seit einiger Zeit an eine Art Kettenbriefaktion. Ich schreibe an acht Freunde: ich würde in die SPD eintreten, wenn die es auch tun. Und nun stell dir vor, die schreiben wiederum an je acht Freunde. In der fünften Runde einer solchen Briefaktion hätten wir dann“, er überlegte kurz, „mehr als 260.000 neue Genossen, und die wären wohl imstande, im Laufe von vier Jahren die ausgebrannten Gestalten an der Spitze zu ersetzen. Dann würde man über Rot-Rot-Grün nicht länger zu später Stunde in Ortsvereinen reden, dann könne es zu einer Wiedervereinigung von sozialer Bewegung und politischen Repräsentanten kommen.“

Er hielt inne, sichtlich erschöpft. „Ich finde Teach-ins und Campac ja auch wichtig“, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, „aber so etwas wäre nachhaltiger. Ist aber anstrengender.“

Es war nun doch sehr spät geworden, so spät, dass die junge Frau hinter dem Tresen, die uns, wenn ich es recht gesehen habe, halb belustigt, halb interessiert zugehört hatte, die Rechnung hinlegte. Und dazu Nordhäuser Doppelkorn. Zwei doppelte.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen